Herrndorf, Wolfgang - Sand
Aber nach anderthalb Tagen im Schlammloch waren seine Sinne stumpf. Er konnte es nicht erkennen, und dass er überhaupt auf solche Gedanken kam, machte ihm klar, dass sein endgültiger geistiger und körperlicher Zusammenbruch unmittelbar bevorstand.
Zurück in der Höhle markierte er die Sackgasse, die er nun zweimal hinaufgekrochen war, mit einem Stein. Dann überlegte er, wie viele Gänge von der Höhle insgesamt abgingen. Waren es drei? Oder vier? Er wusste es nicht. Er konnte sich nicht erinnern. Um sicherzugehen, kroch er eine weitere schmerzhafte Runde gegen den Uhrzeigersinn. Einer, der hinabführte … noch einer, der hinabführte … dann kam schon der Markierungsstein. Also nur drei Gänge! Eine Sackgasse, ein Gang, der am Schlammtümpel endete, und einer, der in die Freiheit führte. Führen musste. Aber welcher? Der rechte? Der linke? Völlige Dunkelheit senkte sich über sein logisches Denken. Einen Raum mit drei Ausgängen, den man bei Licht gesehen hat, kann man als Gewissheit abspeichern. Drei Gänge, die man in einer nachtschwarzen Höhle ertastet, sind nichts weiter als ein gestaltloser Albtraum. Ihm kam es vor, als müsse der Gang, der nicht unmittelbar neben dem markierten Gang lag, der richtige sein. Aber dann wieder schien es ihm, als ob bei drei Ausgängen immer jeder Gang unmittelbar neben jedem anderen lag. Er hörte sich im Dunkeln keuchen. Seine Intuition verlangte hartnäckig eine Drehung nach links, weil er sich bisher immer rechtsum gewandt hatte, aber die gleiche Intuition sagte ihm auch, dass sein räumliches Denken so verworren war, dass auf die Intuition selbst kein Verlass sein konnte, und so wandte er sich abermals nach rechts.
Der Gang, auf den er so stieß, führte zehn oder fünfzehn Meter steil bergab, wurde dann flacher und verzweigte sich in Form einer Kreuzung.
Beide Seitenarme, wie Carl herausfand, waren lang und tot. Er brachte Markierungen vor den Gängen an und kroch weiter. Seine letzten Hoffnungen schwanden. Im Schlamm hatte er wenigstens noch gegen konkrete Gegner gekämpft, gegen Wasser und Metall. Hier kämpfte er mit dem Nichts. Stickige, heiße, vielarmige Finsternis, die ihn verschlang. Schon verschlungen hatte.
Rechts und links zweigten weitere Wege ab. Er fand keine Steine, mit denen er sie hätte markieren können, und ließ sie unerforscht. Irgendwann bog er in einen Gang, der ihm etwas breiter schien als die anderen. Am Rand lagen Kiesel und Steine, und er versuchte vergeblich, einige davon im Mund mitzuführen. Er hätte reichlich Gelegenheit gehabt, sie zu verwenden. Alle paar Meter gab es nun Abzweigungen. Es ging nach links und nach rechts, bergauf und bergab, und irgendwann sackte er zusammen und blieb liegen. Das Gesicht auf kühlem Fels. Ohne fremde Hilfe würde er diesem Labyrinth nie entkommen. Er hoffte, einfach wegdämmern und friedlich sterben zu können, aber die Endgültigkeit des Todes hielt den Schlaf von ihm ab. Vielleicht diesen breiten Gang noch zu Ende. Auf zerfetzten Händen, Ellenbogen und Knien schleppte er sich durch eine lange, langgezogene Kurve – und da wurde es hell.
Es war ein ganz unwirkliches, jenseitiges, körperloses Licht. Es lag auf keinem Gegenstand, es schwamm wie Nebel vor seinem Auge. Er drehte den Kopf hin und her, aber der Lichtnebel drehte sich nicht mit. Inmitten des Nebels ein Punkt. Er starrte knapp daran vorbei, und der Punkt wurde deutlicher. Mit letzter Kraft kroch er noch zwanzig, dreißig Meter darauf zu, bis er sich vergewissert hatte, dass der Schimmer stetig an Intensität zunahm und nur als mehrfache Reflexion vom fernen Ausgang her kommen konnte. Und dann brach er zusammen.
In einem einzigen, sich endlos wiederholenden Traum sah er sich aus einer Wasserflasche trinken, die Helen ihm reichte.
Als er die Augen aufschlug, lag er in völliger Finsternis. Der Lichtpunkt war verschwunden. Er blinzelte, er drehte den Kopf. Der Punkt blieb verschwunden. Aber er geriet nicht in Panik. Draußen ist die Sonne untergegangen, sagte er sich, die ganze Welt liegt im Dunkel. Und er schlief erneut ein. Sein Körper fieberte. Seine Mundhöhle war eingetrocknet und hart wie Holz. Als er schließlich das Bewusstsein zurückkehren fühlte, wagte er lange nicht zu blinzeln. Ihm war übel vor Hunger und Durst und Schmerzen und Aufregung. Aber da war der Lichtschimmer wieder, und er war deutlicher als zuvor.
Während er darauf zukroch, erschienen die ersten Konturen. Nach zwei Biegungen wurde der felsige Untergrund
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