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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Fingerabdrücke?»
    «Auf der Mauser.»
    «Auf welcher Mauser, bist du blöd? Heute Morgen war Urteilsverkündung.»
    Fünf volle Sekunden passierte nichts. Dann schwenkte Asiz seinen Oberkörper zurück in den Raum. Er hatte aufgehört zu kauen. «Nenn mich nicht blöd, ich mach nur meine Arbeit. Ich hab stundenlang an dieser Mauser rumgeklebt. Dann legt mir keine Scheißzettel ins Fach, wenn ihr kein Scheißergebnis wollt.»
    Er verschwand wieder. Man hörte, wie im Nebenraum eine Tür geöffnet wurde.
    «Polidorio oder wer?», rief Canisades ihm hinterher.
    «Woher soll ich das wissen?»
    «Und was ist das Ergebnis?»
    «Ja, was wohl? Was? Wenn ich euch Idioten schon Stunden …»
    Mehr war nicht zu verstehen.
    Eine Minute vor sechs setzte dramatische Geigenmusik ein. Canisades angelte nach der Akte, aber mit den Beinen vor sich auf dem Schreibtisch konnte er sie nicht erreichen. Die Musik brach ab, die Kamera fuhr zurück, und die grisselige Analoguhr wurde Teil eines Nachrichtenstudios. Ein sehr junger, sehr gut aussehender Mann saß hinter einem Teakholztisch, auf dem in genauer Symmetrie ein Blumengesteck, ein Kondensatormikrophon und ein schwarzer Telefonapparat standen. Der junge Mann begrüßte die Zuschauer auf Arabisch und Französisch und verlas die Meldungen anschließend nur auf Französisch.
    Zu Ehren des Königs war an seinem vierundsechzigsten Geburtstag eine Parade abgehalten worden. Man sah weiß Uniformierte auf prächtigen Schimmeln, Lakaien in weißen Togen, die Pfauenfedern trugen. Ein hoher Offizier wurde zum Provinzgouverneur ernannt. Eine Oberschule war abgebrannt. Der Nachrichtensprecher las ernst und salbungsvoll. Als hinter ihm das Bild einer Frau in schwarzem Hidschab erschien, die sich vor verkohlten Kinderleichen auf dem Boden wälzte, brach ihm die Stimme. Mit einem unterdrückten Schluchzen tauchte er unter den Tisch, schnäuzte sich und verlas nach angemessener Pause die Fördermengen jüngst erschlossener Phosphorminen des Nordens. Dazu sah man eine Frau in knappem Höschen, die mit beiden Beinen waagerecht vor sich in der Luft stand. Unter ihr eine Sandgrube, hinter ihr eine Tartanbahn: Heide Rosendahl. Der Sprecher stockte kurz, und schon zeigte ein Einspieler einen Mann mit einem weißen Sonnenhütchen auf dem Kopf und Schuhcreme im Gesicht, der sich mit einer Gruppe von Anzugträgern unterhielt. Andere Männer in flotten Trainingsanzügen turnten mit Maschinengewehren über die Flachdächer des olympischen Dorfes. Der Freiheitskampf des palästinensischen Volkes würde. Der Münchner Polizeipräsident habe. Alle Geiseln seien. Anschließend minutenlanges Interview mit einem hohen geistlichen Würdenträger, der scharfsinnig die Lage analysierte.
    Canisades hatte beide Hände hinter dem Kopf verschränkt, sperrte den Mund auf und schob den Unterkiefer knackend hin und her. Dann nahm er die Beine vom Schreibtisch und griff nach der Akte. Das DIN-A4-Blatt mit den Fingerabdrücken lag obenauf. Standardtext, darunter zwei quadratische Rahmen mit je einem kartoffeligen Abdruck in der Mitte.
    «Targat», sagte der Nachrichtensprecher.
    Canisades blickte auf. Der Bildschirm zeigte die Fotografie eines weißen Lieferwagens mit vergitterten Fenstern, der von einem Zwölftonner quer gegen eine Hauswand gefahren worden und wie eine Konservendose aufgeplatzt war. Der am Vormittag zum Tode verurteilte vierfache Mörder Amadou Amadou sei während des Gefangenentransports zur Hinrichtungsstätte entsprungen. Zur Fotografie umgewandt zeigte der Nachrichtensprecher mit beiden Armen die sich überkreuzenden Fahrtrichtungen der Autos an, erläuterte den Unfallhergang und schloss mit einem Zitat des Polizeigenerals, das sinngemäß besagte, man werde des entsprungenen Häftlings in Kürze erneut habhaft sein und möge Allah seiner Seele Frieden schenken, denn man selbst werde dies nicht tun. Er stieß den Papierstapel vor sich auf den Tisch und hüstelte. Die Kamera zoomte zurück auf die Analoguhr. Es war Viertel nach sechs.
    Canisades betrachtete die Kästchen. Ein rechter Daumen von der Waffe, deutlich erkennbar, und der rechte Daumen Amadous, vor zehn Tagen auf dem Revier abgenommen. Identisch.

    ZWEITES BUCH: DIE WÜSTE
     
    TABULA RASA
     
    Wieder zehn Tagereisen von den Garamanten kommt wieder ein Salzhügel und eine Quelle, und wohnen Menschen darum her, die heißen die Ataranten. Das sind, unseres Wissens, die einzigen Menschen ohne Namen. Nämlich alle zusammen heißen sie Ataranten,

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