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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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verletzen oder gar töten, rief er: «Ihr könnt das Geld ruhig haben!»
    Das war ein Fehler.
    Der Beifahrer begriff es zuerst. «Wir können das Geld ruhig haben!», sagte er. Freudestrahlend kam er zurück, klaubte das Portemonnaie auf und beobachtete die Reaktion des Mannes, der am Boden kniete und sich mit einer Hand die schmerzende Seite hielt. Er zog die Papiere aus dem Portemonnaie und studierte sie mit dem begeisterten Unverständnis eines Erstklässlers, der gerade lesen gelernt hat. Ein weißes Kärtchen, ein grünes Kärtchen, ein rötliches Papier. Zwei Reihen weißer, amerikanischer Zähne und eine Menge Zahnfleisch entblößten sich. Beim Lesen erstarrte das Grinsen langsam und gefror, der Mund blieb offen stehen. Entsetzt reichte er das rötliche Papier dem Fahrer und sagte: «O mein Gott.»
    Der Fahrer warf einen Blick darauf, sah sich verwirrt um und sagte dann ebenfalls: «O mein Gott.»
    Und dann nach unten hin: «Das wussten wir nicht! Das tut uns leid. Wenn wir das gewusst hätten, wer Sie sind!»
    «Wir hätten Sie nicht überfallen dürfen!»
    «Supermann! Wir haben Supermann überfallen.»
    «Du sagst es, o mein Gott. Supermann!»
    «Das Superhirn mit den Superkräften!»
    «Und dem Supergrunzen! Ey, Mann. Wir sind voll verloren!»
    Sie fanden sich wahnsinnig komisch. Sie probierten noch eine Reihe von Witzen mit superdreckig, superdämlich und superschweinisch, und dann holte der Beifahrer ein Feuerzeug heraus und hielt es unter den Ausweis. Die Flammen wanderten bläulich und sehr langsam über das zähe Papier. Ein Rest fiel ihm aus der Hand, er schlenkerte den Arm in der Luft und pustete auf seine Fingerspitzen. Das weiße und das grüne Kärtchen brannten besser. Dann erging erneut der Befehl, auf allen vieren herumzukriechen und gen Mekka zu grunzen. Endlich stiegen sie in das Auto und fuhren davon.
    Mit einem Sprung hechtete er nach dem letzten, glimmenden Fetzen rötlichen Ausweispapiers, ein winziges Stück, vom dem zitternd Aschefetzen abfielen. Er hielt es zwischen den Fingernägeln von Daumen und Zeigefinger, und als sei in der Willkür des Zufalls doch etwas wie Logik und Bosheit enthalten, war es das Stück Papier, auf dem «Nom:» stand.
    Name, Doppelpunkt und ein Viertelbuchstabe, ein Schnörkel nur noch. Die letzte Glut fraß gerade den Schnörkel. Der Buchstabe war nach oben und links hin gerundet, ein C also oder ein O. Tiefrote Tinte auf rötlichem Papier. Er blickte zum Horizont, wo sich die Staubwolke über der Piste legte. Dann wieder auf seine rußigen Fingerkuppen. Der Schnörkel hatte sich in Asche verwandelt. Aber er hatte ihn gesehen. Er wusste nun, dass sein Name mit einem C oder O begann. Oder mit einem S. S war auch möglich. Ob es sein Vor- oder Nachname war, wusste er nicht.
    Er lief weiter auf der Piste. Lange Zeit kam kein Auto mehr. Er zog die Dschellabah aus, betrachtete die dünne Blutspur auf dem Rücken und vergrub das Kleidungsstück im Sand. Als die nächste Staubwolke am Horizont aufpilzte, versteckte er sich zu spät. Hupend fuhr ein dunkler Mercedes vorüber. Danach ging er vorsichtshalber in einigem Abstand parallel zur Piste durch die Dünen. Das war anstrengend, aber die Angst brachte ihn um. Auf jeder Düne hielt er Ausschau. Seine Wunde pochte, und er wickelte sich sein Unterhemd um den Kopf. Den weiteren Inhalt seiner Anzugtaschen hatte er längst untersucht: Im Jackett hatte sich ein Bund mit sieben Schlüsseln gefunden, vier Sicherheitsschlüssel, zwei normale, ein Autoschlüssel. Dazu ein gebrauchtes Papiertaschentuch und in der Innentasche des Jacketts ein grüner Bleistift mit abgebrochener Spitze.
    Im Gehen rief er sich Namen mit den Anfangsbuchstaben C, O und S ins Gedächtnis und wunderte sich, dass das so einfach war. Dutzende Namen fielen ihm ohne Mühe ein, ohne dass mit einem einzigen eine Erinnerung verknüpft gewesen wäre. Claude, Charles, Stephane. Cambon, Carre, Serrault. Ogier. Sassard. Sainclair. Condorcet. Ozouf. Olivier. Die Namen wurden ihm wie von unsichtbarer Hand auf einem unsichtbaren Tablett gereicht. Vielleicht waren es Namen, die jeder kannte, ohne Person dazu. Oder er hatte zu jedem Namen eine Person gekannt, und deshalb lösten sie alle das Gleiche bei ihm aus: nichts.
    Er fragte sich, woher er überhaupt wusste, dass es so etwas wie Gedächtnisverlust gab? In welchem Leben hatte er das gelernt?
    Dann fiel ihm das Q ein.
    Aus der nächsten Staubwolke am Horizont erklang das Geräusch eines Dieselmotors. Er warf

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