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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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Art Krone aus weißem Papier, die mit einem Gummiband an seinem Kopf festgebunden war. Es sah aus, als hätte es das Gummiband mit der Hinterpfote mühelos vom Kopf streifen können, wenn ihm danach gewesen wäre. Aber anscheinend war ihm nicht danach.
    Das Tier spazierte behäbig einmal in seinem Laufstall herum, schnupperte an seiner Flanke und starrte dann Helen mit kleinen, schwarzen Knopfaugen an. Obgleich es viel kleiner war als der Zwischenraum der Gitterstäbe, verließ es den Käfig nicht.
    Fowler nahm im Schneidersitz auf einer Matratze Platz und wartete, bis Helen sich ihm gegenüber niedergelassen hatte. Er bedachte sie mit einem Blick, der vielleicht tief und feurig sein sollte und eine umgekehrte Wirkung auf Helen nicht verfehlte. Helen beobachtete das Tier. Das Tier gähnte.
    «Das ist Gurdjieff. Er versteht alles, was du sagst.»
    «Das da?»
    «‹Das da› ist ein Ouz.»
    «Und wenn ich Französisch spreche?»
    «Versteht Gott dich, wenn du betest?»
    «Ich bete nicht.»
    «Sophismus.»
    «Worüber wolltest du reden?»
    «Wir reden ja schon.»
    «Ach ja?»
    «Du bist Jüdin. Sagt Michelle.»
    «Eigentlich nicht.»
    «Immer auf Konfrontation.»
    «Das ist für dich schon Konfrontation? Worüber wolltest du reden?»
    «Versteh mich nicht falsch. Ich werte nicht. Ich konstatiere nur. Und was ich konstatiere, ist: Negativismus. Spitzfindigkeit. Konfrontation.»
    Helen seufzte und sah wieder zu dem Tier. Es war dem raschen Wortwechsel mit Blicken gefolgt wie einem Tennismatch, aufmerksam, ernst und konzentriert.
    «Schau mich an», sagte Fowler mit bedrohlicher Schärfe.
    Helen sah ihn an, und Fowler schwieg. Er bewegte die Zunge im geschlossenen Mund und schloss dann langsam, meditativ die Augen.
    «Du bist nicht umsonst hierhergekommen», flüsterte er. «Und auch nicht aus dem Grund, aus dem du glaubst. Du hast von den vier Morden gehört. Du bist hier, um deine Schaulust zu befriedigen. Du bist hier, weil –»
    «Ich bin Michelles älteste Freundin.»
    «Du kannst antworten, wenn ich fertig bin!» Er riss wütend die Augen auf und ließ viel Zeit verstreichen, bevor er sie wieder schloss und mit seiner Rede fortfuhr. «Ich habe gesagt: Du bist nicht umsonst gekommen. Was du gehört hast, hat etwas in dir ausgelöst. Es hat dich tiefer getroffen, als du weißt. Du willst Michelle besuchen. Sagst du. Du wirst sie nicht finden. Wie – du wirst sie nicht finden? Du hast sie doch eben gesehen? Bleib sitzen. Die Wüste verändert dich. Der Nomade. Wenn einer lange hier gelebt hat, wird sein Blick ein anderer. Der Wüstenbewohner ist ruhig, er ist das Zentrum. Er geht nicht auf die Dinge zu, die Dinge gehen auf ihn zu. Das ist die Kälte, die du spürst. Es ist keine Kälte. Es ist Wärme. Allumfassende Energie. Der Anfang der Freiheit.» Fowler griff blind nach Helens linker Brust und knetete sie teilnahmslos. «Was bedeutet Freiheit? Aha. Freiheit bedeutet nicht, tun und lassen zu können, was man will. Freiheit bedeutet, das Richtige zu tun.»
    Er öffnete einen kurzen Moment lang die Augen und blinzelte, wie um die Wirkung seiner Worte zu überprüfen. Diesen Moment nutzte Helen, um ihm ins Gesicht zu schlagen. Fowler zog seine Hand langsam und majestätisch zurück. Er lächelte würdevoll. Keineswegs gekränkt. Eine Frage der Menschenkenntnis. Er hatte vorausgesehen, was passieren würde, und er war noch immer Herr der Situation. Milde und verständnisvoll blickte er Helen an, und Helen wurde den Eindruck nicht los, dass das Ouz sie auf genau die gleiche Weise ansah.
    «Du hast deine Emotionen unter Kontrolle. Immer unter Kontrolle gehabt. Dadurch werden sie unkontrollierbar. Du wunderst dich, woher ich das weiß. Du bist ein steiler Zahn. Das hast du oft gehört. Steiler Zahn, steiler Zahn. Von schwachen Männern. Männern, die dich nicht interessierten. Tief im Innern weißt du: Dir ist etwas anderes bestimmt. Du bist der typische Fünfer, an der Grenze zur Sechs. Wobei ich mit Sechs jetzt das Dienende meine. Du bist nicht offen. Bleib sitzen.»
    Fowler streckte abermals seine Hand aus, und Helen stand auf und ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und zeigte mit dem Kinn zum Laufstall hin: «Was hat die Ratte da eigentlich auf dem Kopf?»
    Fowler überhörte das Wort Ratte und winkte kaum merklich ab, Gleichmut und Nachsicht unter halbgeschlossenen Lidern. Er konnte niemanden verurteilen, aber es blieb doch ein Rest von Herablassung in seiner Geste. Er hatte die Kraft und die Gabe, die Menschen zu

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