Herrndorf, Wolfgang - Sand
er ein paar Sandkörner aus der Nase und wartete.
Ein Nachbild der eben gesehenen Düne unter der hellen Sonne erschien auf der Innenseite seiner Lider. Die Düne hell und vom Wind mit einem Riffelmuster überzogen, das an die Windungen eines riesigen Gehirns erinnerte, die Sonne ein schwarzer Kringel mit einem hellen Loch in der Mitte. Vielleicht das Letzte, was er in seinem Leben sah. Wenn sie sein Versteck entdeckten, lautlos auf ihn zugingen und ein paar Kugeln in die Erde zwischen den Felsen schossen, würde er nicht einmal seinen Mörder gesehen haben. Das Motorengeräusch kam wieder. Näherte sich. Entfernte sich. Es klang, als ob sie wendeten. Plötzlich spürte er leichte Erschütterungen. Ein feiner Schleier aus Sand spritzte auf den Sand auf seinen Füßen. Er hörte Schreie. Anscheinend fuhren sie hochtourig im Kreis durch das Wellental, in dem er lag. Er zuckte nicht. Er versuchte, nicht zu atmen. Als alle Geräusche verstummten, wusste er nicht, ob sie davongefahren waren oder ausgestiegen, um zu Fuß nach ihm zu suchen.
Minuten der Stille vergingen.
Drei Minuten. Oder zehn. Er spürte, wie unsicher sein Zeitgefühl war, und begann, seine Herzschläge zu zählen. Das Herz schlug wild. Vor seinem inneren Auge sah er den Sand über seiner linken Brust verräterisch wie auf einer Trommel hüpfen. Hundert Schläge eine Minute. Ungefähr. Nach hundertfünfzig Schlägen meinte er, ein gedämpftes Quieken zu hören, er war sich aber nicht sicher. Der Sand in den Ohren juckte entsetzlich.
Er zählte weiter, um die Zeit zu messen, um sich zu beruhigen und sich zu konzentrieren. Hundertneunundneunzig, zweihundert. Er wurde den idiotischen Eindruck nicht los, dass das Ausatmen ein Muster im Sand unter seiner Nase erzeugte, das ihn verraten könnte.
Er zählte bis dreihundert, bis vierhundert, bis fünfhundert. Fünf Minuten. Bei dreitausendzweihundert kamen die Motorengeräusche wieder, aber sehr leise. Diesmal kamen sie ihm nicht nahe. Er zählte bis sechstausend, er zählte bis zwölftausend. Und rührte sich nicht. Das Pochen in seinem Hinterkopf wurde stärker und stärker. Sein ganzer Körper pulste. Die ganze Zeit, während er Zahl an Zahl reihte, hatte er das Gefühl, dass direkt über ihm einer mit gezückter Pistole stand und aus Bosheit wartete. Wartete, bis er die Augen aufschlug, um ihm lächelnd eine Kugel ins sandige Grab nachzuschießen. Er zählte bis fünfzehntausend. Das waren jetzt die letzten zwölftausend Herzschläge, also etwa hundertzwanzig Minuten, ohne Geräusch. Er stülpte die Unterlippe aus, pustete sich übers Gesicht und versuchte zu blinzeln. Der schmale Bildausschnitt zwischen den Felsen zeigte das Wellental von Autospuren zerwühlt und die gegenüberliegende Düne unter dem abendlich gewordenen, glasblauen Himmel. Auf dem Kamm der Düne stand etwas und starrte ihn mit zwei kleinen Knopfaugen an. Durchdringend, unbewegt, auf alberne Weise interessiert. Ein kurzbeiniges, pelziges Tier, nicht größer als ein Fennek. Es hatte gelbrötliches Fell, zwei Schneidezähne hingen über den kleinen Unterkiefer. Das Tier schaute sich um, quiekte noch einmal und trabte davon.
DER VIERTELBUCHSTABE
Everyone of the bastards that are out for legalizing marijuana are Jewish. What the Christ is the matter with the Jews? I suppose it is because most of them are psychiatrists.
Nixon
Kaum hatte er die Piste unter den Telegraphenmasten erreicht, sah er schon eine Staubwolke am Horizont. Er kroch hinter eine Düne, bis er sicher sein konnte, dass es nicht der Jeep war, der sich dort näherte. Es war ein weißer Cinquecento, aus dem links ein Bein heraushing. Er sprang auf, rannte zurück auf die Straße und winkte mit beiden Armen. Durch die Windschutzscheibe waren zwei Insassen zu erkennen, hellhäutige junge Männer mit langen Haaren und nackten Oberkörpern. Sie fuhren in Schlangenlinien auf ihn zu und mit einem Schlenker an ihm vorbei, kuhäugig glotzend. Und dann weiter im Schritttempo.
Er rannte dem Auto hinterher und versuchte dabei, seine Leidensgeschichte in das offene Seitenfenster zu schreien. Der Beifahrer hatte den Mund geöffnet, zog die Oberlippe bis zur Nase hoch und hielt seine Hand wie ein Ertaubter ans Ohr. Er rief: «Was? Ich hab gesagt, was? Du bist ja ein ganz starker Sprinter! Aber – was? Was für Männer? Fahr mal langsamer, er ist schon ganz außer Puste. Nicht so langsam. Jetzt komm, du musst doch wissen, was für Männer! Und dann läufst du hier einfach so
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