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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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erkennen, aber nicht die Kraft, seine Position zu verbergen. Daran musste er noch arbeiten. Er war der klassische Neuner, wie er im Buche stand.
    Erst als Helen ein paar Schritte auf den Käfig zu machte, sprang er auf.
    «Nicht anfassen!»
    «Warum?»
    «Du bist noch nicht so weit.»
    Auf dem Flur wartete Michelle mit Asthmaspray und Taschentuch. Ihrer demonstrativen Unbefangenheit nach zu urteilen hatte sie gelauscht.
    «Willst du mir nicht mal dein Zimmer zeigen?», fragte Helen. «Falls du ein Zimmer hast. Oder das Haus.»

    MAISPFLANZEN
     
    In jeglicher Form des Angriffs ist eine Annäherung an den Gegner von hinten erforderlich.
    Dicta Boelcke
     
    Die Anwesenheit der alten Schulfreundin in den Räumlichkeiten der Kommune zwang Michelle, die bunten Farben, die Sinnsprüche, die Hausaltäre, Blumengestecke und Batikbilder noch einmal mit anderen Augen zu sehen, und ließ, während sie Helen herumführte, eine Fülle längst vergessener Vorstellungen in ihr wiederauferstehen.
    Sie entschuldigte sich unaufhörlich für den Schmutz und die Unordnung, verteilte mit flüchtigen Handbewegungen Haufen Räucherstäbchenasche über die Erde und schob mit dem Fuß einen Wust von Zetteln unter ein Bett, auf denen am Vorabend jemand mit vielen Symbolen, Pfeilen und Zickzacklinien die geheime Botschaft des Weißen Albums entschlüsselt hatte. Die Gottheiten nannte sie schöne Schnitzereien, die Karten einen Zeitvertreib und den Bücherstapel mit den Pentagrammen das Überbleibsel eines vor langer Zeit abgewanderten Mitgliedes.
    «Ich freue mich so, dass du da bist», sagte sie zum Schluss.
    Helen sah Michelle stirnrunzelnd an, und Michelle fing an zu weinen.
    Sie hatte sich im Grunde nicht verändert. Etwas leicht Verträumtes, Unklares war ihr immer eigen gewesen, Freundlichkeit und Güte. Aber es waren Wesenszüge, die auf nichts hinausliefen. Michelle traf keine Entscheidungen. Weder ihr Elternhaus noch eine solide Bildung oder die Jahre in der Kommune hatten daran etwas ändern können. Heiter und planlos übernahm sie fremde Ansichten, mischte sie mit Einfalt und Herzensgüte und besaß nun das zweifelhafte Glück, Teil einer Gemeinschaft zu sein, in der dies eher als Reiz denn als Problem empfunden wurde. «Michelle ist etwas Besonderes», lautete das hinter ihrem Rücken am häufigsten gesprochene Verdikt, wenn sie sich für handfeste, diesseitige Interessen wieder einmal als zu ungeschickt oder zu gleichgültig erwiesen hatte.
    Spannungen blieben so nicht aus, und Michelle löste das Problem für sich, indem sie in der Kommune mit umso größerer Hingabe den beiden Tätigkeiten nachging, die keine Durchsetzungskraft erforderten und für die sie das größte Talent besaß. Erstens Landwirtschaft: Allein Michelle war es zu verdanken, dass die Felder der Kommune überhaupt noch einen messbaren Ertrag abwarfen. Und zweitens: war etwas komplizierter.
    Zweitens nämlich hatte Jean Bekurtz, ein alteingesessener, mittlerweile wieder untergetauchter (oder in der Wüste verschollener) Kommunarde von einer seiner Reisen ein Tarotspiel mitgebracht, den Nachdruck einer oberitalienischen Ausgabe aus dem 16. Jahrhundert, kolorierte Holzstiche, zweiundzwanzig Stück, die großen Arkana. Bekurtz selbst glaubte nicht an das Wirken schicksalhafter Mächte, oder jedenfalls nicht mehr, als ihm zu seiner eigenen Unterhaltung eine Zeitlang angezeigt erschien. Er hatte zwei Bücher zum Thema mitgekauft, fand sie aber anstrengend zu lesen und verlor bald das Interesse. Einzig der Eindruck, den die Holzstiche bei einer Vorführung auf das Neumitglied Michelle machten, gab ihm noch einmal zu denken: Wie Michelle vom ersten Moment an eher abgestoßen als begeistert wirkte, wie sie dennoch nach den Karten griff, wie sie lange überlegte und Fragen zu Positionen stellte, zeigte Bekurtz mehr als deutlich, dass er nicht der richtige Mann für die Chartomantik war. Er brachte ihr bei, was er wusste, und überließ ihr das Handwerkszeug ohne Neid.
    Michelle fand die Bücher nicht anstrengend. Sie verschlang sie. Und als sie sie verschlungen hatte, verschlang sie sie noch einmal. Nicht eine Sekunde lang hatte sie den Eindruck, verborgenes Geheimwissen in sich aufzunehmen, unerklärliche, von Adept zu Adept über Jahrhunderte weitergereichte Weisheit, sondern es war im Gegenteil, als sei ihr jedes Wort, jeder Satz bekannt, als habe alles dies in ihrem eigenen Kopf lange vorher existiert, ja fast, als habe sie die Bücher selber geschrieben.
    Auch

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