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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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war dein Eindruck? Ja, ist halt nicht richtig in Schuss. Ihr Stecher hat ja Besseres zu tun. Zum Beispiel aus sehr großer Höhe auf das Wort Loyalität hinunterzupinkeln. Und jetzt Preisfrage: Was sagt die fette Kuh zum Thema Finger? Klavierspieler! Er will Klavierspieler werden. Ist sie praktisch schon kurz vorm Höhepunkt, sagt sie: Er will Klavierspieler werden. Stell dir das mal vor. Drei Jahre alt, schon Klavierspieler. Unglaublich, oder? Drei Jahre und Beethoven. Kein Problem, sag ich, na, hoffentlich will er nicht auch Johan Cruyff werden, Beethoven und Cruyff, das ist doch mal eine seltene Kombination. Ich also ein Zehchen gegriffen, und was sagt die Kuh jetzt?»
    Der Weißhaarige wartete die Wirkung seiner Worte ab. Er konnte ja nicht wissen, dass sie keine Wirkung hatten. Jedenfalls nicht die, die sie auf einen Menschen mit Erinnerungsvermögen gehabt hätten.
    «Na los, du kennst sie doch, was sagt die fette Kuh?»
    Mit gesenktem Blick hörte er dem Sermon des Weißhaarigen zu und versuchte, etwas anderes als Gleichgültigkeit zu empfinden. Er hatte eine Familie? Er hatte Frau und Kind? Sie wurden bedroht? Es gelang ihm nicht, Gefühle aufzubringen für Personen, an die er sich nicht erinnern konnte. Er versuchte, sich vorzustellen, wie er demnächst sein Gedächtnis wiedererlangen und große Schmerzen beim Gedanken an körperliche Misshandlungen seiner Liebsten leiden würde, aber die Überlegung blieb abstrakt, wie ein Zahnarztbesuch in zwei Monaten.
    Außerdem hallten in seinem Innern die Worte «fette Kuh» und «Scheißerchen» nach, und er musste an Helen denken. Die schlanke, platinblonde Helen. Das Einzige, was das Gerede des Weißhaarigen in ihm auslöste, war Ekel. Und Angst um seine eigene Person. Hier heil rauskommen. Einige Minuten zuvor war er noch bereit gewesen zu sagen, was er wusste: dass er nichts wusste. Die traurigen Spekulationen über abgeschnittene Körperteile machten ihm klar, mit was für einem Gegenüber er es hier zu tun hatte. Er versuchte, ruhig zu bleiben.

«Heul jetzt nicht. Wer groß einen aufspielen will, muss sein Hinterland absichern. Und besser als Hinterland absichern ist immer noch: kein Hinterland haben. Schau mich an. Da kannst du Gandhi nehmen, da kannst du Hitler nehmen, alle kannst du nehmen. Jesus. Nein, mein Lieber. Frau und Kind: schlimmstes Hinterland überhaupt. Da kann jeder einmarschieren. Da bist du weich wie Käse. Guck dir Julius an: früher der Beste von allen, jetzt ein sentimentales Wrack. Sag ich zu ihm, Julius, sag ich, was denkst du, was sollen wir machen? Und Julius reißt dem kleinen Scheißerchen das Amulett vom Hals und sagt: Wie isses, Cheffe? Reicht das nicht auch? Köstlich. Und das ist jetzt die Situation. Die Kuh mit dem Kleinen ist einkassiert. Nur falls du dich schon gewundert haben solltest. Oder warst du in den letzten Tagen gar nicht zu Hause?» Der Weißhaarige nahm das Amulett, führte mit dem Teufelchen eine kleine Tanzeinlage über der Schreibtischkante auf und sagte mit verstellter Stimme: «Hat er gedacht, er kann sich vor uns verstecken. Hat er gedacht.» Und wieder mit normaler Stimme: «Und jetzt muss ich dir leider die Frage stellen, die Julius auch schon gestellt hat: Reicht das?» Er hielt das Teufelchen hoch. «Oder müssen wir Kuh und Kalb scheibchenweise nachliefern?»
    Das Amulett verschwand wieder in der Schachtel und die Schachtel in der Schreibtischschublade.
    «Du weißt, was jetzt kommt?»
    Er dachte eine Weile nach, biss sich auf die Lippen und sagte: «Tauschgeschäft.»
    «Tauschgeschäft», sagte der Weißhaarige mit einem zwischen freudestrahlend und fassungslos hin und her wechselnden Gesichtsausdruck. «Tauschgeschäft!» Der Weißhaarige blickte Julius an, dann erhob er sich und streckte freundlich die Hand über den Schreibtisch aus.
    Er wollte einschlagen, und der Weißhaarige riss ihn am Arm vornüber, griff mit der Linken einen metallenen Brieföffner und rammte ihn mit einer zügigen Bewegung durch seine Hand in den Schreibtisch. Dann ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken und machte mit einer wedelnden Geste klar, dass er auf keinen Fall versuchen solle, sich den Brieföffner selbst aus dem Fleisch zu ziehen. Julius hielt die Waffe auf ihn gerichtet.
    «Na, na, na!»
    Die Hand war so weit auf der anderen Seite des Schreibtischs festgenagelt, dass er weder sitzen noch stehen konnte. In einer merkwürdigen Hockstellung, die ihn aussehen ließ wie jemanden, der versucht, im Freien seine Notdurft

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