Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
Vom Netzwerk:
einem Felsen vorbei, kroch ein Stück auf allen vieren und zeigte hinunter in die Tiefe. Auf der gegenüberliegenden Bergflanke war auf halber Höhe ein kleines Plateau mit einer winzigen Hütte zu erkennen. Ein Windrad drehte sich, Fässer standen zu einer Pyramide getürmt, und knapp über der Hütte war ein riesiger Stollen in den Berg getrieben. Seitlich davon fielen Abraumhalden den Berg hinunter wie versteinerte Wasserfälle.
    «Soldaten», sagte Carl.
    «Da in der Hütte?»
    «Da.» Er zeigte in eine ganz andere Richtung. «Die haben da rumexerziert und sich ganz komisch bewegt. Dass das keine Erwachsenen sind, hab ich erst gemerkt, als einer auftauchte, der doppelt so groß war wie alle anderen.»
    «Kinder?»
    «Hatten aber Gewehre und Uniform und alles. Jetzt sind sie schon zehn Minuten weg.»
    «Und bei der Hütte waren die nicht?»
    «Nein. An der Hütte tut sich nichts. Aber wenn das keine Mine ist, weiß ich auch nicht.»
    Sie beobachteten noch eine Weile das Tal und die Hütte und entschlossen sich dann, auf einem in die Steilwand getretenen Weg abzusteigen. Als sie durch die Talsohle marschierten, krachte ihnen ein Schuss um die Ohren. Carl warf sich sofort zu Boden. Helen suchte Schutz hinter einem Felsbrocken. Von den Felswänden hallte das Echo wider. Keiner von ihnen hatte gesehen, woher der Schuss gekommen war.
    Es blieb eine Weile still. Dann hörten sie, wie jemand in schlechtem Englisch brüllte: «Amerika! Scheißamerikaner!»
    Auf dem Plateau stand schräg über ihnen jetzt ein Mann und schwang eine Winchester wie eine Keule über dem Kopf herum. Die Waffe rutschte ihm aus der Hand. Er lachte. Er hob sie wieder auf, machte sich am Verschluss zu schaffen und hielt sie dann mit einer Hand senkrecht in die Luft. Presste seinen Kopf fest an den hochgereckten Arm, steckte sich den Zeigefinger seiner anderen Hand ins Ohr und schoss. Der Schuss hallte wie zuvor. Der Mann hüpfte hin und her und rief: «Scheißamerikaner!»
    «Dieses Land fängt an, mir auf die Nerven zu gehen», sagte Helen.
    Sie rief dem Mann aus ihrer Deckung auf Französisch zu, dass sie sich verlaufen hätten. Dass sie nicht wüssten, wie sie zur Straße zurückkommen sollten und dass sie einen Schluck Wasser gebrauchen könnten.
    Als Antwort schleuderte der Mann erneut das Gewehr herum, und wieder fiel es ihm aus der Hand. Er war völlig betrunken.
    Helen kletterte bis knapp unter die Auskragung des Plateaus hinauf. Sie trug Shorts, ihre Bluse war durchgeschwitzt, und mit nach oben gekehrten Handflächen redete sie leise zu dem Hüttenbesitzer hoch.
    «Amerikaner!», wiederholte der Mann noch ein-, zweimal unsicher und starrte mit weit aufgerissenen Augen von oben in Helens Bluse. Dann rief er in Richtung Carl: «Ich kann dich sehen! Ich seh dich! Ich will euch beide sehen!»
    Er machte eine unklare Geste und fiel rückwärts um. Mit dem Gewehr als Krücke versuchte er, sich wieder aufzurichten. Er hatte helle, wachsbleiche Haut und ganz winzige Fältchen. Er hätte dreißig sein können oder auch siebzig.
    Carl und Helen, die das Plateau mittlerweile erklommen hatten, griffen dem Taumelnden unter die Achseln und führten ihn zu seiner Hütte. Sie war nicht viel geräumiger als ein großes Auto, und in ihrem Innern sah es aus wie in der Seele ihres Besitzers: ein wenig unordentlich.
    Er sank sofort zu Boden, versuchte, seine Gäste zum Platznehmen zu bewegen, und hörte sich mit kindlichfröhlichem Gesichtsausdruck ihre vier- oder fünf- oder sechsmal wiederholten Fragen an.
    Nein, zurzeit grabe er nicht, sagte er und deutete auf einen Verband an seiner Wade, aus dem Lehm und verdorrte Kräuter quollen. Wie lange er schon nicht mehr grabe, könne er mit letzter Gewissheit unmöglich sagen, aber er sei bekanntlich Hakim III, Sohn von Hakim II, Enkel Hakims von den Bergen. Und natürlich, das legendäre Gold, das sein Großvater vor hundert Jahren an genau dieser Stelle, wo nun die Hütte stehe, mit eigener Hand aus dem Staube und auf Allahs Wunsch und zum Ziele seiner Heirat mit Leila, der blumenhaften, der gazellengleichen, schwarzäugigen Leila mit den zierlichen Ohren, seiner Mutter – Bitte um Verzeihung –, Großmutter, aufgeklaubt habe … was war noch mal die Frage? Genau. Verrückt geworden sei er, verrückt vor Gier. Statt Leila, der bildschönen, der kleinohrigen, den goldenen Brautschmuck schmieden zu lassen und wohlgefällig sein von Anbeginn vorbestimmtes Leben zu leben, habe Hakim, Schande über ihn, allen

Weitere Kostenlose Bücher