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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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mehr steht und sich keiner mehr erinnern kann. Oder? Warum nennt einer sein Restaurant Zur Goldmine? Lass es uns wenigstens versuchen.» Sie zeigte auf den schmalen Weg, der sich in die Berge schlängelte, und Carl, der einer neuerlichen Enttäuschung aus dem Weg gehen wollte und zugleich wütend war, nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen zu sein, stieg widerwillig ins Auto.
    Kahl und gleichförmig reihten sich die Berge aneinander. Vereinzelt waren Felsbrocken über die nackten Flanken hinuntergestürzt. Hier ein kleiner Felsen, dort ein großer. Gelbe und graue und braune Monolithen bedeckten die Hänge wie eine mittelmäßige Kunstausstellung. Im Schritttempo kroch der Honda die Steigungen hinauf.
    Hinter einer Wegbiegung bremste Helen, weil sie oben am Berg eine Bewegung gesehen zu haben meinte. Sie setzte ein Stück zurück, und in einem schmalen Felsspalt dreißig oder vierzig Meter über der Straße wurde ein Mann in bunter Freizeitkleidung sichtbar, den Blick auf den Boden gerichtet. Seinen haarlosen Schädel zierte ein an den Ecken vierfach geknotetes Taschentuch. Auf seiner Schulter wippte eine Apparatur, die sich jedes Mal, wenn er den Oberkörper etwas hinunterbeugte, in seinem Rücken wie ein Mast aufrichtete. Die Apparatur bestand aus einer langen Angelrute mit einem großen, feinmaschigen Netz obendran. Vor der Öffnung des Netzes war eine kreisrunde Holzscheibe, die mit einem Seilzug am Griffende geöffnet und geschlossen werden konnte. Der Mann hatte nur kurz zum Honda hinuntergeblickt und war dann weitergetrottet.
    Helen lehnte sich aus dem Fenster.
    «Beißen sie?», rief sie auf Englisch. Der Schall brach sich zwischen den Felsen und hallte zurück. Der Mann tat einen unsicheren Schritt zur Seite, um besser sehen zu können. Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter und rief: «Eigene Erfindung!»
    «Kennen Sie sich hier aus? Wir sind auf der Suche nach einer –»
    «Levi Doptera! Ich!», brüllte der Mann.
    «Angenehm, Helen Gliese!», rief Helen. Sie stellte den Motor ab. «Nach einer Mine. Hier muss es irgendwo eine Mine geben.»
    «Eine Schiene?»
    «Mine. Eine Goldmine.»
    «Brauchen Sie Geld?»
    «Wir suchen ein Bergwerk.»
    «Ich hab Geld wie Heu», rief der Mann und winkte. «Sag ja», sagte Carl.
    «Nein!», brüllte Helen. «Sie haben nicht zufällig irgendwas gesehen? Oder ein stillgelegtes Bergwerk?»
    «Ausgezeichnet!»
    «Was sagt er?», fragte Carl.
    «Ich weiß es nicht», sagte Helen. Und laut zum Fenster hinaus: «Was ist ausgezeichnet?»
    «Ich bin auch auf der Suche!», brüllte der Mann. «Levi Doptera.»
    «Phantastisch!», rief Helen. «Aber so was wie Bergbau haben Sie hier auch nicht gesehen?»
    «Wo ein Berg ist, gräbt der Mensch! Lassen Sie sich nicht entmutigen. Meine Erfahrung.»
    «Lass uns weiterfahren», flüsterte Carl, «der hat sie nicht alle.»
    «Vielen Dank für die klugen Worte!», rief Helen. «Sollen wir Sie ein Stück mitnehmen?»
    «Nein, nein!» Der Mann lachte, und der Kescher wippte lustig hin und her.
    «Dann halt nicht. Arsch.»
    Die Straße wurde immer schmaler und steiler und endete einige Kilometer weiter zwischen zerbröselten Felsen, mitten im Nichts.
    Carl und Helen stiegen aus und besahen sich die Umgebung. Kahle Bergflanken rechts und links, Eidechsen in der Sonne. Staubige Disteln.
    Helen erklärte die Unternehmung daraufhin für endgültig gescheitert, aber jetzt war es Carl, der schon fünfzig oder hundert Meter einen Hang hochgeklommen war und weiter hinaufstieg auf der Suche nach Spuren menschlichen Wirkens. Helen rief ihm eine Weile hinterher, dann setzte sie sich ins Auto und verfolgte durch die Windschutzscheibe die kraxelnde Gestalt, die nach geraumer Weile den Bergkamm erreichte, kurz Ausschau hielt und achselzuckend auf der anderen Seite verschwand. Zehn Minuten vergingen. Eine halbe Stunde. Ermattet saß Helen auf dem Fahrersitz, beide Autotüren weit geöffnet. Ein Berggipfel warf den ersten Schatten hinter Helen ins Tal. Sie löste die Handbremse und ließ das Auto langsam dorthin zurückrollen. Als sie die Bremse wieder anzog, entdeckte sie einen winkenden Mann ganz oben auf den Felsen. Carl winkte, und er musste schon länger gewinkt haben. Helen rief etwas zu ihm hinauf, er antwortete nicht und wedelte nur weiter mit den Armen.
    Nach einem seufzenden Blick auf ihre Riemchensandalen machte sich Helen daran, ganz vorsichtig den Berg hinaufzusteigen.
    «Pscht», sagte Carl, als sie oben angekommen war. Er zog sie an

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