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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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allzu großen Gedanken machen. Das Gefährlichste sind Blutungen, und die –»
    «Was ist die Dreyfusaffäre?»
    «Ach, das haben Sie sich gemerkt? Sie passen ja auf wie ein Luchs.»
    Verwirrt blickte Dr. Cockcroft zwischen den drei ihn umgebenden, disparaten Entitäten hin und her: dem zum dritten Mal eilig auf das Tischbein zukrabbelnden Käfer, dem fragenden Patienten und dem mit rötlicher, blasser Haut überspannten Greifgerät aus Knochen, Sehnen, Nerven und Muskeln, das zitternd ein Glas Bourbon hielt. Er führte den Bourbon zum Mund.
    «Dreyfus hat mit unserer Sache nichts zu tun!», erklärte er bestimmt. «Nur dass der Rechner, von dem ich gerade sprach, natürlich ein Schachrechner war. Richard Greenblatt. Das sagt Ihnen jetzt nichts. Aber der hat vor fünf oder sechs Jahren damit angefangen. Mit ein paar Leuten haben sie versucht, einer dieser Maschinen Schach beizubringen. Nutzlos, aber Informatiker sind so. Und Dreyfus – Hubert Dreyfus – war ein Philosoph am MIT. Der kommt von Heidegger und hat es nicht so mit der Elektronik. Schreibt seit vielen Jahren Bücher, in denen er erklärt, warum es künstliche Intelligenz nicht gibt, niemals geben wird, und warum jeder Achtjährige besser Schach spielt als ein Lochkartensystem. Damit nervt er die Kollegen von der Computerwissenschaft natürlich, und da hat dann Greenblatt den guten Hubert irgendwann aufgefordert, gegen seinen Rechner anzutreten. Soweit ich mich erinnere, hörte der auf den schönen nom de guerre Mac Hack. Und dieser Mac Hack fegte die Philosophieabteilung vom Brett, dass es nur so eine Art hatte. Auf diese Weise erlangte Dreyfus zweifelhafte Unsterblichkeit als erster Mensch, der dümmer war als ein paar Kupferdrähte. Nicht ganz so toll wie der erste Mensch auf dem Mond, aber immerhin. Seine Bücher gegen die Maschinenwelt sollen seitdem noch eine Spur kompromissloser geworden sein, habe ich mir sagen lassen …»
    In dieser Weise fuhr Dr. Cockcroft noch eine Weile zu reden fort. Carl, der nicht wusste, warum der Arzt ihm das alles erzählte, der vor allem nicht wusste, ob die sonderbaren Studienerinnerungen seines Gegenübers noch Teil der Untersuchung waren oder nicht (und, wenn ja, welchem Zweck sie dienten), kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an, der Psychiater versuche hier auf ebenso verschlungene wie schlüpfrige Weise, ihn in eine überaus durchsichtige Falle zu locken.
    «Was hat das mit mir zu tun?», unterbrach er schließlich das Gerede.
    «Nichts!», erklärte Dr.Cockcroft fröhlich, nahm einen großen Schluck Bourbon und stellte das Glas schwungvoll zurück auf den Tisch. Mit weit aufgerissenen Augen sah er seinen Patienten an.
    «War das Absicht?», fragte Carl.
    «Was?»
    «Das da.» Er deutete auf den Bourbon.
    Dr. Cockcroft kniff ein Auge zusammen, ließ das andere weit offen und linste von oben durch den flüssigen Bernstein hindurch auf den Käfer. Ein mit dem Knöchel auf die Tischplatte geklopftes Morsezeichen, und das in einer Mulde unter dem Glas eingeschlossene Insekt krabbelte einen panischen kleinen Kreis. Ein Lupfen des gläsernen Gefängnisses – «Pardon!» –, und der Sechsbeiner hastete über die Tischplatte, plumpste über die Kante und raschelte unter einen Stapel Zeitungen.
    «Also warum erzählen Sie mir das alles?», fragte Carl.
    «Warum ich Ihnen das erzähle? Weil ich diese Dinge hochinteressant finde! Und weil ich glaube, wir gehen herrlichen Zeiten entgegen.» Mit beiden Zeigefingern pickte er rechts und links gegen seine Schläfen und führte parallel dazu ein Augenbrauenballett auf. «Früher oder später wird man das, was Sie in Ihrem Kopf da mit sich rumtragen und was Sie heute noch leiden lässt, durch zwei integrierte Schaltkreise und ein paar bunte Drähte ersetzen. Bildhübsche Studentinnen werden Sie mit einem Fußtritt, Hammer und Kneifzange von Ihrem Elend erlösen, und auch die Frage der Unsterblichkeit … aber ich sehe, das alles interessiert Sie nicht besonders. Gut. Ist ja auch fröhliche Zukunftsmusik. Heute müssen wir in die Abgründe Ihrer Gehirnwindungen noch einmal mit herkömmlichen Mitteln hinabtauchen, sosehr es auch schmerzt.»
    Er nahm seinen Notizblock wieder auf, blätterte ein paar Seiten um und hielt plötzlich inne: «Wobei mir einfällt, erwähnten Sie schon, warum Sie eigentlich hier sind? Ich meine nicht die Amnesie. Aber Sie wollten ja erst nicht zum Arzt. Und jetzt – ist da irgendetwas vorgefallen in der Zwischenzeit?»
    Carl schüttelte den Kopf.

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