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Herrndorf, Wolfgang - Sand

Herrndorf, Wolfgang - Sand

Titel: Herrndorf, Wolfgang - Sand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Troll Trollson
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machte seine Armbanduhr vom Handgelenk ab, legte sie neben das Glas und den Füller und deutete stumm auf die drei Gegenstände. Anschließend bedeckte er sie feierlich mit seinem Taschentuch.
    «Was haben ein Auto und ein Boot gemeinsam?»
    «Es sind Fortbewegungsmittel.»
    «Und sonst noch?»
    «Dass man drin sitzen kann?»
    «Und?»
    «Und?» Vor seinem geistigen Auge sah Carl Helens rostigen Pick-up und den Kutter aus dem Prospekt der Tauchschule Poseidon. Beide hatten etwas mit Helen zu tun. Nein, das war Unsinn. Er zuckte die Schultern.
    «Gut», sagte Dr. Cockcroft. «Dann erzähle ich Ihnen jetzt eine Geschichte. Merken Sie sich, so viel Sie können. Der Tyrann von Akragas, ein Mann namens Phalaris, ließ durch den Bildhauer Perillus einen Bronzestier anfertigen. Der Stier war innen hohl und geräumig genug, einen Gefangenen aufzunehmen. Schürte man Feuer unter der Bronze, sollen die Schreie der Eingeschlossenen geklungen haben wie die Schreie echter Stiere. Das erste Opfer, das zu Testzwecken geröstet wurde, war der Bildhauer selbst. Geben Sie die Geschichte in Ihren eigenen Worten wieder.»
    «Die ganze Geschichte?»
    «Die ganze Geschichte.»
    «Also, ein Mann namens … Dings lässt einen Stier bauen. Aus Bronze. Um Leute darin zu foltern. Mit Feuer. Und der Bildhauer stirbt als Erstes.»
    «Wie würden Sie das interpretieren?»
    «Wie, interpretieren?»
    «Was ist die Moral der Geschichte?»
    «Welche Moral?»
    «Gibt es keine Moral? Irgendeine Aussage?»
    «Vielleicht: Wer andern eine Grube gräbt.»
    «Das ist für Sie die Aussage?»
    Carl sah unbehaglich auf den Käfer, der mittlerweile die Tischplatte erklommen hatte und sich vorsichtig an der Kante entlangtastete.
    «Denken Sie nach. Worauf genau läuft die Geschichte hinaus?»
    «Dass Kunst und Politik nicht zusammengehen?»
    «Konkreter?»
    «Dass Kunst unmoralisch ist?»
    «Das ist Ihrer Meinung nach die Aussage?»
    «Ich weiß es nicht», sagte Carl gereizt. «Der Tyrann ist ein Idiot, der Bildhauer ist auch ein Idiot, ein Idiot bringt den andern um. Ich kann da nicht viel Aussage erkennen.»
    Dr. Cockcroft nickte ein wenig betrübt, lehnte sich dann zurück und fragte: «Was ist unter dem Taschentuch?»
    «Eine Armbanduhr, ein Glas und ein weißes Kaninchen.»
    Das Gesicht des Arztes blieb vollkommen ausdruckslos. «Unter dem Taschentuch?»
    «Ein Füller», korrigierte Carl.
    «Fühlen Sie einen starken Drang nach Bewegung in sich?»
    «Was für Bewegung?»
    «Sie haben geschildert, Ihre erste Erinnerung ist, ich zitiere: Ich renne durch die Wüste.»
    «Meine erste Erinnerung ist die Scheune.»
    «Und dann rennen Sie», sagte Dr. Cockcroft, während er umständlich versuchte, sich die Armbanduhr wieder anzulegen. «Sie gebrauchten das Wort Flucht.»
    «Weil jemand hinter mir her war.»
    «Ist dieser Drang zu fliehen weiter vorhanden?»
    «Es verfolgt mich ja keiner mehr.»
    «Kann es sein, dass die Verfolger zurückkommen?»
    «Worauf wollen Sie hinaus?»
    «Eine Einschätzung: Besteht Ihrer Ansicht nach die Möglichkeit, dass die Verfolger zurückkommen?»
    «Sie werden sich nicht in Luft aufgelöst haben. Und ich hab sie mir nicht eingebildet. Wenn es das ist, was Sie denken.» Carl hielt die verletzte rechte Hand hoch – und bemerkte zu spät seinen Irrtum.
    An der Bar schenkte Dr. Cockcroft sich einen weiteren Bourbon ein. Diesmal brachte er die Flasche gleich mit.
    «Dann noch mal zurück zur Scheune», sagte er und ließ sich zurück in den Plüschsessel fallen. «Sie haben Kolben und Kessel und Rohre geschildert. Woran erinnerten die Geräte Sie?»
    «Ich hatte sie nie vorher gesehen.»
    «Aber haben Sie sich keine Gedanken über den Zweck der Apparatur gemacht? Was könnte das gewesen sein?»
    «Ein Laboratorium.»
    «Genauer?»
    «Warum fragen Sie das?»
    «Warum antworten Sie nicht?»
    «Weil Sie die Antwort auch nicht kennen.»
    «Antworten Sie trotzdem.»
    «Wozu? Wenn ich sage, es sah aus wie eine Düngerfabrik, oder wenn ich sage, es war ein Physiklabor, wollen Sie hinfahren und nachgucken?»
    Dr. Cockcroft schwieg, und Carl, der vergeblich versuchte, sein aufsteigendes Misstrauen zu unterdrücken, sagte: «Ich weiß nicht, was Sie hier eigentlich testen?»
    «Beantworten Sie einfach meine Frage. Was könnte es gewesen sein?»
    «Sagen Sie’s mir.»
    «So wie Sie das schildern und in Verbindung mit dem, ich zitiere, leichten Alkoholgeruch beim Erwachen, könnten das vielleicht Destilliergeräte gewesen sein?»
    Carl

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