Herrndorf, Wolfgang - Sand
«Außer dass ich Ihren Zettel gefunden habe. Und dass es mir nicht gut geht. Ich bin unruhig und werde immer unruhiger. Ich kann kaum schlafen. Ich träume entsetzlich.»
«Ach ja.»
«Letzte Nacht hab ich praktisch gar nicht geschlafen. Ein einziger Albtraum.»
«Verständlich. Dann mal zurück zu der Frage –»
«Soll ich Ihnen erzählen, was ich geträumt hab?»
«Nein, müssen Sie nicht. Wir können weitermachen.»
«Interessiert es Sie nicht?»
«Sie denken, weil ich Psychiater bin.» Dr. Cockcroft biss auf den Resten seines Daumennagels herum. «Wenn’s Sie erleichtert, erzählen Sie’s.»
Carl zögerte einen Moment und gab dann seinen Traum von der riesigen, fetten Ziege wieder. Der Ziege, die plötzlich Helens Miene hatte. «Also, Helens Gesicht», korrigierte er. Beim Erzählen wurde Carl immer unsicherer, weil er spürte, dass er nicht ansatzweise beschreiben konnte, was das Grauenerregende des Traums gewesen war. Bei Licht betrachtet wirkte alles ganz harmlos.
«Und jetzt wollen Sie eine Deutung von mir?», fragte Dr. Cockcroft. «Was möchten Sie hören? Dass Sie offenbar Angst haben vor der amerikanischen Touristin, die Sie aufgenommen, gesund gepflegt, mit Geld ausgestattet, verbunden und zu mir geschickt hat? Dass das Gesicht dieser Frau Ihnen fremd ist, so fremd wie das jeder anderen Person? Dass Sie in die Fänge einer raffiniert maskierten Betrügerin geraten sind?» Er griff mit beiden Händen in seinen Vollbart und zerrte daran, als müsse er seine Echtheit beweisen. «Eine Spionin in geheimer Mission? Ihre langjährige Ehefrau, die Ihnen unter Ausnutzung der Umstände eine herrliche Komödie vorspielt? Ich bin zwar Psychiater, aber kein Freund der Wiener Kloake. Wenn Sie meine bescheidene Ansicht wissen wollen: Träume sind Feuerwerke in unserem Hirn. Sie haben keine Bedeutung. Das ist auch der Stand der Wissenschaft.»
«Das ist nicht sehr ermutigend», sagte Carl nach einer längeren Pause.
«Alles, was die moderne Hirnforschung herausfindet, ist nicht sehr ermutigend», erwiderte Dr. Cockcroft begeistert. «Hat es übrigens mit dem Wort Miene etwas auf sich?»
«Was?»
«Sie ersetzten es sofort durch Gesicht. Nein? Dann noch mal zurück zu dieser amerikanischen Touristin. Helen. Der zu vertrauen Sie offenbar Schwierigkeiten haben. Haben Sie eine intime Beziehung?»
«Was?»
«Üben Sie den geschlechtlichen Verkehr miteinander aus?»
«Was geht Sie das an?»
«Ich bin Ihr Arzt. Kohabitieren Sie?»
«Was hat das mit meiner Amnesie zu tun?»
«Können Sie sich an Intimitäten nicht erinnern?»
«Nein. Weil es keine gab.»
Dr. Cockcroft nickte, pochte das Ende des Füllers seitlich gegen seinen Hals und sah Carl lange ins Gesicht. «Eine letzte Frage. Versuchen Sie einmal, ohne Gegenfrage zu antworten. Sind Sie vollkommen sicher, dass Sie nicht wissen, wer Sie sind?»
«Wäre ich sonst hier?»
«Ich frage nicht ohne Grund.»
«Ja!», sagte Carl verzweifelt.
DISSOZIATION
Sein Gesicht trug den einfältigen Ausdruck eines Menschen, der nachdenkt und sich nicht bemüht, es zu verbergen.
Kafka
«Ihr Krankheitsbild ist, vorsichtig ausgedrückt, außergewöhnlich. Ich weiß, man soll mit Diagnosen zurückhaltend sein, aber für angemessene Zurückhaltung fehlt uns wohl die Zeit. Erstens sind wir hier nicht im klinischen Bereich, wo Sie eigentlich hingehören. Zweitens wage ich zu bezweifeln, dass es im Umkreis von fünfhundert Kilometern einen adäquaten klinischen Bereich für Sie gibt. Und drittens haben Sie eine sehr unsichere Lebensgrundlage und scheinen darüber hinaus in Dinge verstrickt, die eine weitere Behandlung erschweren könnten. Immer vorausgesetzt, Ihre Angaben stimmen. Zuletzt bin ich auch kein ausgemachter Spezialist auf dem Gebiet der Amnesie, ich bin eher so Feld-, Wald- und Wiesenpsychiater. Ich weiß einiges, aber sicher nicht alles. Ich schieße jetzt mal ein bisschen ins Blaue, wenn’s Ihnen nichts ausmacht. Und in der Hoffnung, dass Sie mir helfen.»
Er blätterte in seinen Notizen. «Sie haben keine großen funktionellen Ausfälle, das merken Sie selbst. Sie sind zeitlich und räumlich gut orientiert. Ihr Weltwissen ist intakt und befindet sich auf dem Stand eines Mittelschülers. Sie können sich an alle Geschehnisse seit Ihrem – nennen wir es Unfall – erinnern, und Sie scheinen keinerlei anterograde Amnesie zu haben, wie sie für Schädelhirntraumata typisch wäre. Ihr Erinnerungsdefizit bezieht sich ausschließlich auf die
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