Herrscher der Eisenzeit - die Kelten - auf den Spuren einer geheimnisvollen Kultur
Du wirst dich vielleicht fragen, warum ich dir alles erzählt habe.« Aleso nickt. »Du wolltest wissen, was wir besprechen und hast uns belauscht. Wir wollen, dass niemand von unserem Vorhaben erfährt. Du hast jetzt die Wahl. Wir bieten dir an zu uns zu gehören. Solltest du ablehnen, werden wir dich töten, noch hier und heute.« Als er sieht, dass Aleso tief Luft holt, fügt er hinzu: »Überleg dir deine Antwort sehr gut. Das Naheliegende muss nicht notwendigerweise auch das Bessere sein. Wenn wir dich töten, so wirst du nichts spüren. Sollten jedoch die Götter an jenem bewussten Tag nicht mit uns sein und solltest du in die Hände der Krieger unseres Stammesführers fallen, dann wird man dich wie einen gewöhnlichen Verbrecher hinrichten. Was das bedeutet, brauche ich dir nicht zu erklären. Jetzt überdenke deine Entscheidung noch einmal, und lass dir Zeit damit, wir haben noch die ganze Nacht.«
Er gibt ein Zeichen, und zwei Männer stehen auf. »Bindet ihm die Hände und Füße zusammen. – Das hat nichts mit Misstrauen zu tun«, wendet er sich Aleso noch einmal zu, ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen, »aber ich weiß, dass die Angst selbst einen tapferen Mann manchmal seltsame Dinge tun lässt. Wir können nicht riskieren, dass du fliehst.«
Der Junge steht wie betäubt. Erst als ihn einer der Männer am Arm berührt, kommt er zu sich.
»Nein, es ist nicht nötig. Ich habe mich entschieden. Ich werde mit euch kämpfen.«
Er hat die Worte kaum ausgesprochen, da trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Der Tag, auf den er immer gewartet hat, ist nun gekommen. In dieser Nacht ist seine Kindheit zu Ende gegangen. Er wird nie mehr zurückkehren können.
... oder die Zeichen der Götter
Was Aleso erlebt hat, ist Teil dessen, was die Geschichtsschreibung die große Unruhe nennt. Um etwa 400 v. Chr. kommt gleich an mehreren Stellen Bewegung in die Siedlungsgebiete der Kelten. Ausgangspunkt ist das heutige Zentralfrankreich.
Der römische Geschichtsschreiber Livius schaut im 1. vorchristlichen Jahrhundert zurück auf die Geschichte der Kelten. Seine Erzählung liest sich wie eine abenteuerliche Mischung aus Mythos und Realität. Von ihm wissen wir, dass zu Beginn der großen Unruhe das, was die Römer später einmal Gallien nennen werden, unter der Oberherrschaft der in der Gegend um Avaricum (heute Bourges) lebenden Bituriger steht. Deren Herrscher namens Ambigatus stellt eine Art »Großkönig« über die Anführer der anderen Stämme dar. Es geht ihnen gut, doch mit dem Wohlstand wächst auch die Zahl der Menschen. Es droht Überbevölkerung. Dazu kommt, dass hier nach dem heutigen Stand der Forschung um diese Zeit ein Klimasturz nachgewiesen ist, der so gravierend war, dass er zu mehreren Missernten geführt haben muss (eine Tatsache, auf die sich in Livius’ Erzählung kein Hinweis findet).
Livius lässt die Bituriger, wie dies zu seiner Zeit bei schwierigen Entscheidungen üblich ist, zunächst die Götter befragen. Aus ihren Zeichen lesen die Bituriger nach seiner Darstellung folgende Antwort: Der Herrscher der Bituriger, Ambigatus, soll zwei junge abenteuerlustige Männer aus seiner entfernteren Verwandtschaft, Bellovesus und Segovesus, in die Welt hinausgeschickt haben, um neue Siedlungsgebiete für das stetig wachsende Volk zu suchen. Damit auch niemand in den Ländern, die auf ihrem Weg liegen, auf die Ideekommt, sie von ihrem göttergewiesenen Pfad abzubringen, sollen sie die überzähligen Menschen dieser Stämme gleich mitnehmen. Wer würde es schon wagen, einen derart großen Kriegerhaufen anzugreifen? Damit sich die beiden Anführer nicht in die Quere kommen, weisen die Götter zwei grobe Marschrichtungen. Segovesus erhält Zeichen, die ihn nach Nordosten führen, über den Rhein, in das Hercynische Gebirge, die Gebiete, die heute der Harz, der Schwarzwald und vor allem Böhmen sind. Für Bellovesus haben die Götter zwar einen anstrengenderen Weg, dafür jedoch ein klimatisch angenehmeres Ziel auserwählt. Er zieht über die Graischen Alpen (den Kleinen St. Bernhard) nach Oberitalien. Mit ihm ziehen Angehörige weiterer Stämme, die den Biturigern untergeben sind: Arverni, Senonen, Aedui, Ambarri, Carnutes, Insubrer und Aulerci. Auch diese Stämme betrachten den Auszug des Bellovesus als willkommene Gelegenheit, sich von dem wachsenden Bevölkerungsdruck zu befreien. Mit einem großen Heer aus Fußkämpfern und Reitern, so Livius, bricht Bellovesus den Zeichen der Götter
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