Herrscher der Eisenzeit
Paulinus braucht etwas Gleichwertiges. Ein Sieg über einen weiteren renitenten Stamm der Britannier wäre eher unbedeutend. Ein Sieg über die von Caesar als äußerst gefährlich eingestuften Druiden ist da schon etwas anderes.
Er hat jedoch wenig Zeit, sich über seinen Sieg zu freuen, denn noch während des Abschlachtens der Bewohner der heiligen Insel Mona braut sich in seinem Rücken eine Katastrophe zusammen …
Boudicca heisst »Sieg«
Das Übel, das Rom im Jahr 60 n. Chr. um ein Haar die römische Präsenz in Britannien kostet, hat einen Namen: Gier. Verkörpert wird sie durch den Prokurator (die personifizierte Finanzbehörde) der jungen Provinz Britannia, Decianus Catus.
Er ist so ziemlich das Schlimmste, was das römische Karrieresystem in Britannien hervorbringt, ein Opportunist, wie er im Buche steht. Zudem sitzt er an einer Position, die Menschen mit seinem Charakter geradezu zum Missbrauch auffordert.
Als Anfang des Jahres 60 n. Chr. der von Rom bei den Iceni installierte König Prasutagus stirbt, ist die Zeit für Decianus Catus gekommen. Seine Auslegung geltenden Rechts ist dabei mehr als abenteuerlich.
Reiterstandbild der keltischen Fürstin Boudicca und ihrer beiden Töchter in London aus dem Jahr 1902. Die Frau des römerfreundlichen Königs der keltischen Iceni im heutigen East Anglia wurde von römischen Beamten enteignet und misshandelt, ihre Töchter vergewaltigt. Ihr Rachefeldzug gegen die römische Besatzung im Jahr 60 n. Chr. führte zur kompletten Zerstörung mehrerer römischer Städte und beinahe auch zum Ende der gerade einmal 17 Jahre alten römischen Provinz Britannia.
Offizielle Erben des Prasutagus sind nach keltischem Recht seine Töchter, zehn und zwölf Jahre alt. Formeller Miterbe – sozusagen per »Nebenvereinbarung« – ist der römische Kaiser (seit 54 n. Chr. nicht mehr Claudius, sondern Nero).
Decianus Catus betrachtet die Rechtslage sehr »selektiv«. Für ihn gilt nur die »Nebenvereinbarung«. In der Praxis sieht das so aus, dass er das Stammesterritorium der Iceni so betrachtet – und behandelt! – als wären es die Länder eines militärisch unterworfenenStammes und damit Eigentum Roms, mit dem man verfahren kann, wie es einem beliebt.
Catus und seine Beamten vertreiben Adlige von ihren Ländereien, zwangsrekrutieren Männer ohne Ansehen der Person in die Hilfstruppen, behandeln selbst Angehörige der königlichen Familie wie Sklaven.
Die Situation eskaliert, als die Leute des Prokurators beginnen, das königliche Anwesen zu plündern und sich ihnen die streitbare Witwe des Prasutagus, Boudicca, entgegenstellt. Nach geltendem keltischen Recht ist sie Königin der Iceni. Für die Männer des Catus ist Boudicca jedoch nichts anderes als ein zänkisches Weib, das sich den Realitäten verweigern will. Sie behandeln die Königin auf eine Art und Weise, die an Menschenverachtung ihresgleichen sucht: Sie binden sie an einen Pfahl, zwingen sie, bei der Vergewaltigung ihrer beiden minderjährigen Töchter zuzusehen und peitschen sie anschließend aus.
Diese öffentliche Demütigung, diese völlige Ignoranz der Tatsache, dass Boudicca die legitime Herrscherin über die Menschen und das Territorium ist, das die Männer des Prokurators ausplündern, lösen etwas aus, womit niemand rechnet.
Boudicca – die als Frau eines ehemaligen römerfreundlichen Königs alles andere als eine keltische Hardlinerin ist – ruft zum Krieg gegen die Römer auf, und mehr als 200
000 Krieger folgen ihrem Ruf. Wobei es nicht nur blanke Rache für eine als kollektiv empfundene Demütigung ist, was sie treibt. Zumindest eine große Gruppe von Kriegsherren hat ein außerordentlich großes Interesse daran, dass die Römer dahin verschwinden, woher sie gekommen sind.
Dieses Interesse heißt Geld.
Denn zeitgleich, allerdings angesichts der Lage mit einem ganz üblen Timing, verlangen einige wohlhabende Römer – allen voran Seneca – über Decianus Catus die Gelder zurück, die sie den einflussreichen Britanniern zur Verfügung gestellt haben, damit diese den »Roman Way of Life« leben und verbreiten. Auf einmal sind eskeine »Geschenke« mehr (heute würde man sie wohl als »verlorene Zuschüsse zur Förderung des Handels« bezeichnen), sondern »Darlehn«. Nun, und Darlehn muss man zurückzahlen, nicht wahr? Sicher ist es unüblich, sie auf einmal zurückzufordern, aber ist es deswegen illegal? Außerdem muss man – neue Provinz hin oder her – seine eigenen Interessen
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