Herrscher
längst ein listenreicher Blender gewesen. Beim Heer erwies sich seine Begabung als
förderlich, besonders wenn er sie mit aller Rücksichtslosigkeit nutzte.
Diese Jugenderinnerungen dienten Kol gewissermaßen als Vorlage für den Umgang mit dem Prinzen. Er versuchte den liebevollen Vater zu spielen, den der Junge nie gehabt hatte; und er trat als Heldengestalt auf, der ein Ruch nach Abenteuern anhaftete. So verkörperte er das Beste aller Vorbilder für einen Knaben und konnte tun, was Königin Girta verwehrt blieb: ihn in die Welt der Männer einführen.
Dort sollte es dann möglich werden, ihn in die männliche Kunst des Krieges einzuweihen.
Während Tolum Kol dem Prinzen Finten und Attacken zeigte, äußerte er sich öfter abfällig über die weibliche Ängstlichkeit. Auf diese Weise hoffte er, den Knaben der Mutter zu entfremden und ihn in die Bruderschaft der Krieger einzuführen. Kol war völlig klar, dass er außerordentlich gerissen vorgehen musste, denn er wollte sich nicht mit der Mutter in die Haare geraten. Vorerst wusste er nämlich noch nicht, wer seinen Plänen dienlicher war: Mutter oder Sohn. Für jeden hatte er sich einen gesonderten Ansatz ausgedacht. Er hatte die Absicht, Königin Girtas Furcht zu vertiefen und gleichzeitig den Prinzen zur Tollkühnheit anzustacheln, um zu sehen, auf welchem Weg sich mehr erreichen ließ. Kol war sich bewusst, dass er diese doppelte Taktik nicht lange beibehalten konnte. Früher oder später musste er sich für die Mutter oder den Sohn entscheiden und den überflüssigen Teil beseitigen.
Er beendete den heutigen Unterricht, indem er dem Prinzen zeigte, wie man eine Klinge mit einem Aufwärtsstoß zwischen die Platten eines orkischen Panzerhemds stechen konnte. Zu diesem Zweck hatte er ein derartiges Stück mitgebracht. »Es ist so ähnlich, als ob man ein Messer beim
Fisch unter die Schuppen bohrt«, erklärte Kol und zeigte ihm die Bewegung mit dem Dolch. »Nun versuch es selbst.«
Kregant III. fiel das Panzerhemd an, als wäre es ein Ork, und stach wüst zu. »Stirb, Pissauge! Verrecke! Stirb!«
Kol lachte. »Ein guter Stoß, ein guter Stoß! Das Pissauge wäre zweifellos hin. Aber denk an das Blut. Verspritz es bloß nicht auf Mutters schönen Fußboden.«
Der Prinz hüpfte in einer eingebildeten Blutlache umher. »Spritz, spritz, spritz! Überall Orkblut!«
Kol lachte umso fröhlicher. »Bei Karm, du bist ein Kerl nach meinem Geschmack.«
Dar veranstaltete das zehnte Fest mit inzwischen geübter Liebenswürdigkeit, obwohl die ständigen abendlichen Mahle sie allmählich ermüdeten. Noch dreiundzwanzig solche Abende, dachte sie und fühlte sich bei dieser Aussicht nahezu überfordert. Das Essen, das sie an diesem Abend servierte, war reichlich bemessen und wohlschmeckend, aber weniger üppig als die vorangegangenen. Als Hauptgang gab es kein Tahwerti mehr, sondern Gatuub, einen Eintopf aus Lammfleisch und Dörrobst. Wie jedes Mal krönte Falfhissi das Beisammensein.
Die Familie, die Dar an diesem Abend zu Gast hatte, unterstand einer älteren Muthuri mit drei gesegneten Töchtern. Diese Töchter hatten Töchter, die schon eigene Familien gegründet hatten, daher saßen in Dars Hanmuthi Gäste aus vier Generationen. Darüber hinaus war nur Kovok-mah anwesend, denn Dar hatte noch keine neuen Mintari erwählt, und Nir-yat verbrachte den Abend mit Thir-yat. Als die Gäste sich verabschiedeten, zog sich Kovok-mah rasch in seine Schlafkammer zurück.
Dar tat das Gleiche. Im Schlaf träumte sie von Twea. Sie
träumte nicht zum ersten Mal von dem Mädchen, doch diesmal war es ein außergewöhnlich lebensechter Traum. Dar sah Twea am Ufer des Turgen spielen. Sie trug Lumpen und hatte keine Schuhe, aber sie verhielt sich froh und heiter. Auch Sevren war da und lächelte bei ihrem Anblick. »Obwohl sie wenig Grund dazu hat«, sagte er, »ist sie ein fröhliches Kind. In Averen würde man sagen, sie ist ›von der Fee geküsst‹.«
»Sie kennt nur ihre Zukunft nicht«, antwortete Dar im Traum, genauso wie sie es an dem Tag gesagt hatte, von dem sie träumte. Kaum hatte sie die Antwort gegeben, als sie erwachte.
Sie lag wach auf der Schlafmatte und erinnerte sich an die Ereignisse, die sich angeschlossen hatten: Auf dem Gewaltmarsch war Tweas schmaler Leib immer noch dünner geworden. Als sie nicht mehr laufen konnte, hatte sie getragen werden müssen. Vor der Schlacht hatte man sie auf einem Karren versteckt. Dann die Trennung. Schließlich war Tweas
Weitere Kostenlose Bücher