Herrscher
Leichnam in Muth’las Umarmung gebettet und ihre blutige Brust mit Wildblumen bedeckt worden.
Bedauern und Gram packten Dar. Sie war für mich wie eine Tochter, und ich habe sie im Stich gelassen. Der Traum war dermaßen wirklichkeitsgetreu gewesen, dass ihr das Gefühl kam, Twea sei eben erst zur Schlafkammer hinausgegangen. Auch das Verlustgefühl empfand Dar als unmittelbar und nah. Es wurde ihr unerträglich. Sie erhob sich von der Schlafmatte. Auf lautlosen Füßen durchquerte sie das Hanmuthi.
Reglos saß Kovok-mah auf seiner Schlafmatte. »Bist du wach?«, flüsterte Dar, sobald sie vor ihm stand.
»Hai, Muth Mauk.«
»Ich habe von Vögelchen geträumt«, sagte Dar, benutzte
Kovok-mahs Kosenamen für das Mädchen. »Ich vermisse sie so sehr …«
»Ich auch.«
»Nur du und ich erinnern uns noch an sie.« Dar seufzte. »Neben dir sah sie so winzig aus, aber du hast sie nie erschreckt. Ich glaube, sie hatte dein sanftes Wesen sofort gespürt. Erinnerst du dich an den Tag, als sie dir Blumen ins Panzerhemd gesteckt hat?«
»Ich weiß es noch.«
»Und erinnerst du dich, wie glücklich sie war, als sie am Morgen vor der Schlacht etwas Brot bekam?«
»Der Schlacht, vor der du mich gewarnt hattest, aber es mangelte mir an Verstand. Ich habe gesehen, wie du neben Vögelchen gestanden hast … Verwünschungen gegen alle Washavoki hast du geschrien … Ihnen den Tod gewünscht … Und …« Kovok-mah verstummte. »Muth Mauk, dein Gesicht ist nass.«
Dar wischte sich über die Augen. »Ich bin traurig, Kovok, so traurig … Ich möchte schlafen. Aufrecht schlafen wie die Urkzimmuthi, nicht im Liegen wie ein Säugling oder eine Kranke.« Dar schniefte. »Nur du kannst mir dazu verhelfen, wenn du mich hältst, so wie du mich auf unserer Reise gehalten hast.«
Dar wartete, aber Kovok-mah gab keine Antwort. Sie legte sein Schweigen als Zustimmung aus, kletterte auf seinen Schoß und lehnte den Rücken an seine breite Brust.
Zärtlich schlang Kovok-mah die Arme um Dar. Sie zitterten ein wenig, und seine Lippen streiften sachte ihr Ohr. »Dargu …«, flüsterte er.
21
BEI JEDEM SCHRITT verursachte der kalte, steinige Untergrund Dars Füßen Schmerzen. Von Panik getrieben, rannte sie trotz der Beschwerden weiter. Er darf mich nicht sehen!
Zwischen zwei Findlingen klaffte ein Spalt, und sie schwang sich hinein. Zunächst klang ihr Keuchen zu laut, als dass sie, wie angestrengt sie auch lauschte, Schritte hätte hören können. Erst als ihre Atemzüge sich beruhigten, hörte sie Ledersohlen auf der kiesigen Erde knirschen. Die Schritte zeugten von keinerlei Eile. Dar fühlte sich zu erschöpft zum Laufen. Also blieb sie im Versteck und hoffte übersehen zu werden.
In der Enge des Felsspalts konnte sie ihren ungewaschenen Körper riechen. Sie hatte den Moschusgeruch eines wilden Tiers.
Ihre schweißnasse Haut kühlte ab. Die Felle, die ihren Leib einhüllten, spendeten kaum Wärme. Sie waren derartig steif vom Dreck und verfilzt, dass die Haare ausfielen. Im Winter werde ich frieren müssen, falls ich nicht … Doch ihr kam kein Ausweg in den Sinn.
Die Schritte wurden lauter. Schließlich verstummten sie. Vor der Felsspalte stand eine Gestalt. Ein Sohn. Seine grüngoldenen Augen spähten in die Dunkelheit zwischen den Findlingen. Sobald er Dar bemerkte, entzog er ihr den Blick und leugnete ihre Gegenwart. Dars Panik schlug in etwas anderes um, etwas Schlimmeres – in Verzweiflung. Ich bin tot, verdeutlichte sie sich. Thwada.
Dar erwachte in Kovok-mahs Armen und empfand augenblicklich die gleiche Panik wie im Traum. Noch war Nacht.
Wortlos sprang sie von Kovok-mahs Schoß und kehrte auf ihre kalte Schlafmatte zurück. Sobald sie wieder lag, dachte sie so eindringlich an ihren Traum, dass sie ihn erneut durchlebte. Die Warnung zu verkennen, war ihr völlig unmöglich. Ich darf nicht noch einmal schwach werden.
Dar wusste, dass Kovok-mah alles für sie tun würde, aber er konnte nicht lügen. Das Gleiche galt für Nir-yat. Geheimnisse könnten nicht bewahrt werden. Eine schlichte Frage musste sie enthüllen. Dar bezweifelte nicht im Geringsten, dass sich Fragestellerinnen fanden. Da sie nicht mehr einschlafen konnte, versuchte sie einen Plan auszutüfteln, um neuen Versuchungen vorzubeugen.
Sie beschloss, am kommenden Tag in Nagtha-yats und Lama-toks Nacken zu beißen, da ein Hanmuthi mit mehr Bewohnern weniger Gelegenheit zur Zweisamkeit ließ. Außerdem wollte sie Kovok-mah nach Taiben schicken, damit
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