Herz an Herz mit dem Boss?
sonst.
Sie arbeitete für ihn, und als ihr Chef hatte er es als seine Pflicht angesehen, sie vor etwaigen Unannehmlichkeiten am Arbeitsplatz zu schützen. Und was tat sie? Sie benahm sich wie eine alte Jungfer, die von einem Lustmolch bedrängt wurde. Wie peinlich!
Und obendrein hatte sie ihn angestarrt. Ob er es bemerkt hatte? In Bezug auf Frauen entging ihm nichts, und das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass er auf die Idee kam, sie würde in ihm irgendetwas anderes sehen als ihren Chef – einen Mann, den sie respektierte, aber immer auf Distanz halten würde.
„Ich habe die Berichte auf deinen Schreibtisch gelegt“, sagte sie knapp. „Dein Meeting morgen um zehn habe ich umgelegt. Also …“
„Also kannst du jetzt gehen und deinen Ärger mit dir selbst ausmachen“, sagte Ryan.
„Das werde ich.“
Den gesamten Heimweg lang ging ihr der Tonfall nicht aus dem Kopf, mit dem er dies zu ihr gesagt hatte. Sie fragte sich, was er von ihr dachte. Es kam ihr vor, als würde die von ihr gesetzte Grenze zwischen ihnen, die ihrer beider Rollen festlegte, einstürzen wie ein Kartenhaus, und das nur, weil er sie in einem schwachen Moment erwischt hatte.
Was sie Jessica zu verdanken hatte.
Als sie von der U-Bahn-Station nach Hause ging, war es stockfinster und eiskalt. Seit zwölf Jahren hatte es keinen so harten Winter in London gegeben. Noch hatte es nicht geschneit, aber der Wetterbericht sagte weiße Weihnachten voraus.
Bei ihr zu Hause brannten alle Lichter. Jamie seufzte. Immerhin hatte Jessica den Schlüssel gefunden, der unter einem Blumentopf neben dem Haus versteckt war. Und immerhin hatte sie es wohlbehalten von Edinburgh nach London geschafft, auch wenn ihre Ankunft weiteren Stress für Jamie bedeutete.
2. KAPITEL
„Du verstehst das nicht …“
Jamie, die dabei war, die Geschirrspülmaschine einzuräumen, wandte sich zu ihrer Schwester um. Die ging gerade mit missmutiger Miene in der Küche auf und ab, wobei sie ab und zu innehielt, um irgendetwas in die Hand zu nehmen und es gelangweilt und geringschätzig zu betrachten. Nichts in diesem Haus entsprach ihrem Geschmack, das hatte sie deutlich gezeigt, sobald Jamie nach Hause gekommen war.
„Hättest du dir nicht etwas Komfortableres suchen können? Mum hat uns ja nicht gerade viel hinterlassen, aber ehrlich, Jamie!“ Die Möbel waren zu langweilig, im Kühlschrank war nichts Gesundes, und: „Du hast ja nicht einen Tropfen Alkohol im Haus!“
Zwar war Jamie das Gemecker ihrer Schwester durchaus gewohnt, aber sie hatte sie so lange nicht gesehen, dass sie ganz vergessen hatte, wie sehr ihre Bemerkungen ihr auf den Geist gingen.
Als Jamie sechs Jahre alt gewesen war und Jessica noch ein Kleinkind von drei Jahren, war ihr Vater gestorben, und ihre Mutter hatte sie großgezogen. Jamie war ein Bücherwurm gewesen, hatte viel für die Schule getan; es war ihre feste Absicht gewesen, später einmal zu studieren. Jessica hingegen lackierte sich die Fingernägel, frisierte sich aufwendig und kannte schon mit dreizehn alle Tricks, um beim anderen Geschlecht gut anzukommen.
Jamie blieb ein Studium verwehrt. Als sie gerade erst neunzehn war, musste sie sich um ihre Mutter kümmern, die sich bei einer Routineoperation multiresistente Krankenhauskeime eingefangen hatte. Nachdem Gloria gestorben war, musste Jamie allein für ihre sechzehnjährige Schwester sorgen. Während Jamie sich gern zurückzog, um zu lesen, und wie ihr Vater ein dunkler Typ war, hatte Jessica die blonden Haare ihrer Mutter geerbt. Ihr lag es fern, sich irgendwohin zurückzuziehen; ganz im Gegenteil, sie war erpicht darauf gewesen, immer im Mittelpunkt zu stehen.
Also musste Jamie, die noch immer um ihre Mutter trauerte, sich plötzlich um eine Jugendliche kümmern, die außer Rand und Band war.
Was hätte sie tun sollen? Ihre Mutter hatte sie gebeten, sich um Jessica zu kümmern und gut auf sie aufzupassen. „Denn du weißt ja, wie sie sein kann – sie braucht eine feste Hand …“
Jamie fragte sich oft, warum sie über all dem Stress keine grauen Haare bekommen hatte.
Und jetzt, wo all das lange her war, all diese Vorfälle, an die Jamie nur sehr ungern zurückdachte, war Jessica hier, überwältigend schön wie eh und je – oder noch schöner, wenn das überhaupt möglich war –, und schon ärgerte sich Jamie wieder über sie.
„Ich kann ja verstehen, dass die Verantwortung, die du trägst, zu viel wird, aber du kannst nicht einfach davor weglaufen.“
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