dieses Stück war das einzig gute auf der Platte. Ich habe es ca. 100-mal gehört. Als ich an diesem Abend dazu tanzte, hatte ich plötzlich einen Flashback. Ich war wieder in meiner ersten eigenen Wohnung. Das Gefühl von damals kam in allen Einzelheiten hoch. Für die Dauer des Songs war ich total ergriffen, sang laut mit und war gleichzeitig irgendwie wehmütig. Eine unerklärliche Sehnsucht packte mich. Gleichzeitig fühlte ich mich mit allen Anwesenden verbunden. Nach dem Song dachte ich, jetzt könne es nicht besser werden, also ging ich.
Ich trat vor die Tür in die kühle Luft, schloss mein Fahrrad auf und fuhr los. Und an der ersten roten Ampel musste ich plötzlich heulen. Die Tränen liefen mir über die Wangen, ohne dass ich genau wusste, warum. Es floss einfach aus mir raus. Vielleicht war es die Trauer über meine vergangene Jugend. Oder das Schicksal meiner Mutter oder sonst was. (Ich will nicht so weit gehen, Deine Mail an dieser Stelle aufzuführen, deren Inhalt mich indirekt zu dieser Party gebracht hat, aber …)
Ich weiß nicht, wann ich überhaupt das letzte Mal geweint habe, aber gestern Nacht heulte ich an der Ecke Rosenheimer Str./Orleanstraße für die Dauer von zwei Ampelschaltungen – und schämte mich keine Sekunde dafür. Dann wurde es wieder grün, und ich fuhr weiter.
Zu Hause trank ich noch ein Bier auf meinem Balkon, lauschte den Geräuschen der Nacht und ging erst ins Bett, als die ersten Vögel zu zwitschern begannen. (Ich dachte, im November zwitschern keine Vögel mehr, aber weit gefehlt!)
Deine Absage war nicht schuld an meinem Gefühlsausbruch, keineswegs. Aber sie war auf jeden Fall Auslöser für einen seltsamen Abend. Und ich denke, ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass Du damit Teil meines Lebens bist. Wenn Du Dich jetzt also in diesen Kollegen von Deiner Schwester verguckt haben solltest, dann gnade ihm Gott.
Grüße vom Tanzbär
Dein Berti
PS . Aus meinem Poesie-Album der fünften Klasse der Eintrag von Stefan Schurwanz:
«Wenn sie zu dir sprechen:
biegen oder brechen.
Sprich: brechen eher als biegen,
gib acht, dann wirst du siegen.»
Ich werde Dich daher nicht anrufen (biegen), sondern würde Dich lieber sehen (brechen). Auch wenn Du es offenbar nicht ganz so gerne willst wie ich.
Deine beleidigte Leberwurst
***
Mi 16. November 17:48
Betreff: Achtsame grüßt Tanzbär
Von:
[email protected] An:
[email protected] Mein lieber beleidigter Tanzbär,
zunächst dachte ich, die Nummer mit deiner Tanztussi sei die Retourkutsche für mein Date und der zweifelhafte Versuch, mich eifersüchtig zu machen. Aber glücklicherweise entpuppte sich deine Samstagnachtanekdote als kleine Offenbarung, die mich berührt.
Überhaupt finde ich, steht dir das Tanzen in meiner Phantasie viel besser als das Skifahren. Du bist sicher ein sehr guter Skifahrer, als Urbayer. Aber beflügeln tut mich die Vorstellung eines Bertis, der nicht auf Brettern steht, sondern männlich-galant übers Parkett schwebt und der bestimmt schon allein deswegen anziehend wirkt, weil ihm gar nicht bewusst ist, wie souverän und gleichzeitig entspannt (im Sinne von lässig) er dabei wirkt. Da bin ich ja quasi gezwungen, dir ein Treffen in Aussicht zu stellen, bei dem wir Essen und Kino am besten gleich überspringen, um einfach nur zu tanzen – Walzer in Wien, Salsa in München oder Solo in meinem Hamburger Lieblingsklub. Das letzte Mal habe ich in Boltenhagen auf der Hochzeit meiner Schulfreundin getanzt. Aber eher lustlos. Ein Mal pflichtschuldig mit dem Bräutigam, der sicher nur Mitleid mit mir hatte oder aber den Auftrag von seiner Braut bekam. Und ein Mal mit meinem komischen Tischnachbarn, was eigentlich okay war. Also, sieht man mal davon ab, dass er eine hässliche, royalblaue Krawatte und einen Ehering (!) trug und mir mit seinen schönen Augen ständig in den Ausschnitt starrte und mehr Charme als Taktgefühl besaß. Aber mir fehlte dieses spezielle Gefühl beim Tanzen – dieses Gefühl, für den Tanzpartner der Mittelpunkt des Universums zu sein, dieses Gefühl, dass Zeit und Ort vollkommen aufgelöst sind und alles um uns herum vergessen ist. Ja, ich sollte unbedingt mal wieder tanzen. Aber noch ist mir nicht richtig danach. Noch ist dieses Jahr des Tanzens nicht wert. Verstehst du?
Ich könnte es dir erklären, am Telefon. Denn schriftlich ist es schwierig für mich, weil ich nicht heraushören oder fühlen kann, welche Worte dich