mehr beflügelt und mir die Angst vor dem neuen Jahr nimmt. Wie lange hatte ich befürchtet, es würde auch nicht besser werden als das aktuelle. Aber das wäre ja jetzt auch bald geschafft. Die verbleibenden Dezembertage vergehen bestimmt wie im Flug.
Das Einzige, was mir gerade zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass ich noch kein einziges Weihnachtsgeschenk habe. Irgendwie versuche ich wohl zu verdrängen, dass bald das Fest der Liebe und der vermeintlichen Familienharmonie bevorsteht. Am liebsten würde ich Weihnachten dieses Jahr überspringen und mich gleich auf die Reise machen. Ich verrate dir lieber nicht, dass die neue Unterwäsche bereits im Koffer für NY bereitliegt. Natürlich allein aus Aberglaube. Frauen sollen in der Silvesternacht ja rote Unterwäsche tragen. Das bringt angeblich Glück bei der Partnersuche.
Mmh, ich wechsele lieber schnell das Thema: Denn was mich nicht nur aus professioneller Sicht sofort alarmiert hat in deiner Mail, ist die Bemerkung, deine Mutter habe dir beigebracht, dass man Gefühlen nicht trauen dürfe. Ich meine, wenn es ein Leitmotiv gibt, nach dem ich meine Arbeit ausrichte, dann, dass jeder Mensch im Gegenteil lernen muss, seine Emotionen als die wahrzunehmen, die sie sind. Nämlich Wegweiser. Oder besser ausgedrückt: Man sollte seine Gefühle als Indikator für die eigene Befindlichkeit verstehen. Gefühle haben wir ja nicht ohne Grund. Vor allem negative Empfindungen sind Hinweise unseres Körpers, die uns mitunter sogar warnen (z.B. Angst). Zudem ist es wichtig, Emotionen nicht zu ignorieren oder gar zu unterdrücken, weil sie sonst einen anderen Weg der Kompensation wählen und im schlimmsten Fall als Erkrankung zum Vorschein kommen. Nichts gegen deine Mutter, aber in diesem Fall scheint sie dir kein guter Ratgeber gewesen zu sein.
Ich will dir allerdings auch keinen Vortrag halten. Ich muss meine eigenen Gefühle schließlich genauso wahrnehmen. Und mein Gefühl sagt mir derzeit, dass mein Innerstes zwar nach wie vor ängstlich ist – es sich schützen will vor der nächsten Enttäuschung oder auch der Ernüchterung. Doch das Gefühl der kribbeligen Neugier, die Trost und Hoffnung spendet, ist ungleich größer. Ich zähle also die Tage bis zu unserer Begegnung an der Ostsee!
Alles Liebe
Deine Sara
***
Mi 21. Dezember 23:22
Betreff: kein Betreff
Von:
[email protected] An:
[email protected] Liebe Sara,
heute nur ganz kurz und ohne Betreff. (Ich hasse übrigens die Betreffzeile, habe ich das schon gesagt?) Habe ich auch schon gesagt, dass ich Deutschland im Winter hasse? Mein Gott, war es in Thailand schön. So warm und weit weg von der Arbeit und dem ganzen Elend, das damit zusammenhängt.
Aber ich bin selbst schuld. Warum musste ich vorgestern auch noch ins Büro stiefeln, um nach dem Rechten zu sehen? Warum nur? Ich habe doch Urlaub. Eigentlich wollte ich also nur kurz Hallo sagen und gucken, was sich so angesammelt hat. Manche Kunden wollen kurz vor Jahresende noch Geld anlegen (wegen der Steuer) oder eine Versicherung abschließen oder so.
Ich arbeite in einem kleinen Bürohaus, wo ich zwei Zimmer angemietet habe. In einem sitze ich, und im zweiten sitzt mein Angestellter, der die kleineren Nachfragen für mich regelt. Er gibt Namens- und Adressänderungen von Kunden an die Versicherungen weiter und regelt Dinge wie Schadensmeldungen etc. Ich habe ihn vor zwei Jahren über eine Anzeige gefunden. Der Mann heißt Martin Ottenburg, aber er nennt sich Joe, weil er das passender findet. Er ist nämlich Swinger! Nein, nein, keine Panik. Keiner, der mit seiner Freundin in roter Unterwäsche in schummrige Clubs geht, sondern ein Anhänger des Tanz-Stils Swing. Mit allem, was dazugehört: Gel in den Haaren, Al-Capone-Schuhen, gestärkten Hemden und natürlich der Musik. Aber wenn ich jetzt darüber schreibe, wäre es mir beinahe lieber, er wäre ein Sex-Swinger und kein Swing-Swinger, denn wegen dieses bescheuerten Hobbys habe ich jetzt einen Haufen Arbeit am Hals.
Du musst Dir vorstellen, dass sich Joes gesamtes Leben um das Lebensgefühl des Swing dreht. Er hört ständig die Musik, trägt ausschließlich Sachen, die man auch in den 40ern getragen hat, und er versucht manchmal auch in einer Art 40er-Jahre-Tonfall zu sprechen. Normalerweise komme ich mit Joe gut aus. Wir verstehen uns, er berichtet mir, was er am Wochenende gemacht hat, erzählt von irgendwelchen Treffen mit gleichgesinnten Spinnern, und dann arbeiten