Herz aus Feuer
sie lediglich über ihre Rechte aufgeklärt, darauf hingewiesen, daß sie eine Menge erreichen könnten, wenn sie sich organisieren. Houston und die anderen Mitglieder der Schwesternschaft, die sich als Hökerinnen verkleiden, bringen die Zeitung in die Bergwerke, wenn sie dort ihr Gemüse verteilen. Aber sie beliefern nur vier Minenlager, und wir haben insgesamt siebzehn hier in der Gegend. Wir brauchen jemand, der zu allen Bergwerken Zutritt hat.«
»Du weißt, daß alle Minen von Zäunen umgeben sind und bewacht werden. Selbst Leanders Kutsche wird kontrolliert . . . Nina, du willst doch nicht etwa versuchen, Lee dazu zu überreden, diese Aufrufe in die Bergwerke zu schmuggeln!«
»Das fiele mir nicht mal im Traum ein! Wenn er auch nur wüßte, daß ich mir der Existenz von Bergarbeitern bewußt bin, würde er mich schon einsperren. Aber ich habe mir gedacht, daß du als Ärztin, die jetzt den Namen Westfield trägt, vielleicht mit einigen Frauen in den Bergwerkslagern Kontakt aufnehmen könntest.«
»Ich?« flüsterte Blair und stand auf. Das mußte erst gründlich bedacht werden. Wenn man sie mit solchen Streitschriften in ihrer Kutsche ertappte, würde man sie auf der Stelle erschießen. Doch dann dachte sie an das Elend der Minenarbeiter und daß diese Leute auf alle Rechte der Amerikaner verzichten mußten, um sich ein Existenzminimum zu sichern.
»Nina, ich weiß nicht«, flüsterte sie. »Das ist eine Entscheidung von großer Tragweite.«
»Es ist auch ein Problem von großer Tragweite. Und, Blair, du bist jetzt nicht mehr bloß eine von vielen in einer Großstadt. Du bist eine wichtige Persönlichkeit in der Gemeinde Chandler in Colorado.«
Nina stand auf. »Denk darüber nach. Ich gehe jetzt nach Hause, um mit Dad zu sprechen, und vielleicht kannst du mit Lee später zu uns zum Abendessen kommen. Ich kann nur zwei Wochen hierbleiben und muß dann wieder nach Pennsylvania zu Alan zurück. Ich würde dich nicht gefragt haben, wenn ich jemand anderen wüßte, der Zutritt zu den Kohlengruben hat. Ich möchte nur, daß du dich bald entscheidest und mir rechtzeitig Bescheid gibst.«
»Ja, ich werde es mir überlegen«, sagte Blair geistesabwesend, ganz fasziniert von der Vorstellung, daß sie Zeitungen mit aufrührerischen Nachrichten in einem Lager verteilte, das von bewaffneten Männern bewacht wurde.
Den ganzen Nachmittag hindurch, als sie in der leeren Klinik auf- und abwanderte und dann eine medizinische Fachzeitschrift zu lesen versuchte, überlegte sie die Möglichkeiten und Konsequenzen der Mission, die Nina ihr angetragen hatte. Nina wußte wohl, daß sie einen wunden Punkt bei ihr traf: Sie hatte sich nicht mehr als Teil dieser Stadt betrachtet. Als sie vor Jahren Chandler verlassen hatte, gedachte sie nie mehr in diese Stadt zurückzukehren. Es sollte ein Abschied für immer sein. Doch nun mußte sie sich entscheiden, ob sie am Leben dieser Gemeinde teilnehmen oder sich absondern wollte. Sie konnte hier in ihrer sauberen Klinik bleiben und gelegentlich Leute, die in den Bergwerken verunglückten, wieder zusammenflicken; oder sie konnte verhindern helfen, daß diese Leute überhaupt verunglückten.
Und wenn sie dabei selbst verunglückte?
Ihre Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis, und sie kam zu keinem Entschluß.
Abends speiste sie dann mit Lee, dessen Vater und Schwester, und nach dem Dinner, als Nina sie beiseite nahm und fragte, ob sie sich schon entschieden habe, mußte sie das verneinen. Nina lächelte und sagte, das verstünde sie - worauf Blair sich noch unglücklicher fühlte.
Am nächsten Morgen hatte Blair Kopfschmerzen. Die leere Klinik hallte wider von ihren Schritten. Mrs. Krebbs sagte, sie müsse ein paar Einkäufe machen und ging. Um neun Uhr schlug die Hausglocke an, und Blair eilte zur Tür in der Hoffnung, es wäre endlich ein Patient.
Eine Frau und ein kleines Mädchen von ungefähr acht Jahren standen vor ihr.
»Kann ich Ihnen helfen?«
»Sind Sie der Lady-Doktor?«
»Ich bin Ärztin. Möchten Sie mit in meine Praxis kommen?«
»Ja, natürlich.« Die Frau gebot dem Mädchen, sich vor der Praxis auf einen Stuhl zu setzen und auf sie zu warten, während sie Blair in das Behandlungszimmer folgte.
»Was haben Sie für ein Problem?«
Die Frau setzte sich. »Ich bin nicht mehr so kräftig, wie ich mal gewesen bin, und ich finde, ich brauchte hin und wieder Hilfe. Nicht viel Hilfe, nur ein bißchen.«
»Wir brauchen alle hin und wieder Hilfe. Was für eine
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