Herz aus Feuer
Bahnen.
Aus einem kleinen Wandschrank, der größtenteils von Houstons eingemotteter Winterbekleidung belegt war, holte Blair ein Gewand heraus, auf das sie sehr stolz war. Sie hatte es in Philadelphia von der traditionsreichen Schneiderfirma J. Cantreil und Söhne anfertigen lassen. Wochenlang hatte sie mit ihr an Entwurf und Ausstattung dieses Anzugs gearbeitet, damit er allen Anforderungen gerecht wurde, die man an eine Ärztin stellen konnte, und dennoch nicht den Anstand verletzte. Sie hatte sich bei der Anprobe in der Schneiderwerkstatt auf ein hölzernes Pferd gesetzt, um sich zu vergewissern, daß er kurz genug war, um ihre Bewegungsfreiheit nicht zu behindern, und lang genug, um keinen Anstoß zu erregen.
Das Oberteil war von geradezu militärischer Schlichtheit, der Rock lang und weiblich, obwohl er, was man zunächst nicht sah, aus zwei Teilen bestand, so daß sie sich darin so bequem und sicher bewegen konnte wie in einer Hose. Der Anzug war aus dem feinsten, dichtesten marineblauen Serge gefertigt, den man auf dem Markt bekommen konnte, mit mehreren tiefen, hinter den Rockfalten nicht erkennbaren Taschen und einer zuknöpfbaren Leiste über jeder Tasche, so daß keine kostbaren Instrumente verlorengingen. Ein schlichtes rotes Kreuz auf dem Ärmel wies auf den Verwendungszweck des Anzugs hin.
Blair schlüpfte in ein Paar hoher schwarzer Schnürstiefel aus Kalbsleder - eher ein männliches Schuhwerk, da die modisch engen Damenstiefel nicht einmal zum Gehen taugten —, nahm ihre brandneue Ärztetasche und eilte ins Erdgeschoß hinunter, um sich vor dem Haus mit Leander zu treffen.
Er lehnte an seiner Kutsche und rauchte eine von seinen langen dünnen Zigarren. Einen Moment lang hatte Blair Angst, sich mit ihm irgendwohin zu begeben. Zweifellos würde sie den ganzen Tag damit verbringen müssen, seine Hände abzuwehren, die sie überall begrapschen wollten, so daß sie gar keine Gelegenheit bekam, irgendwelchen Patienten zu helfen.
Er musterte mit einem raschen Blick ihre Kleidung und schien zustimmend zu nicken, ehe er auf den Bock sprang und es Blair überließ, ob sie mit dem Einsteigen zurechtkam.
Kaum war sie auf den Sitz geklettert, als er schon lospreschte, wie Blair es bereits zweimal erlebt hatte. Sie klammerte sich mit beiden Händen an der Lehne fest und schrie, während sie auf der südlichen Ausfallstraße die Stadt verließen, um sich gegen das Getöse der Räder und des Fahrtwindes durchzusetzen: »Wo ist dieser erste Fall?«
»Da ich jetzt die meiste Zeit im Krankenhaus arbeite, mache ich nur noch selten auswärts Krankenbesuche«, schrie er zurück. »Einige von den Patienten, die wir besuchen müssen, sehe ich heute zum erstenmal; aber den ersten kenne ich zufällig. Das ist Joe Gleason, vielmehr seine Frau Effie. Ich bin überzeugt, daß sie nicht krank ist, sondern wieder ein Baby bekommt. Irgendwie gelingt es ihr, alle acht Monate eines auf die Welt zu bringen.« Er streifte sie mit einem Blick. »Hast du schon mal Geburtshilfe geleistet?«
Blair nickte und lächelte. Da sie bei ihrem Onkel gewohnt hatte, war sie ihren Studienkolleginnen gegenüber immer im Vorteil gewesen: Sie hatte ihr Wissen nicht nur aus Büchern bezogen, sondern auch praktische Erfahrung gesammelt.
Nach einer Fahrt, die Blair etliche blaue Flecke eintrug, weil sie ständig gegen die Lehne des Fuhrwerks geworfen wurde, hielt Leander vor einer kleinen Blockhütte am Fuße der Berge. Auf dem kahlen Vorhof wimmelte es von Hühnern, Hunden und mageren, schmutzigen Kindern, die alle miteinander um einen Platz zu kämpfen schienen.
Joe, ein knochendürres, größtenteils zahnloses Männlein, scheuchte Kinder wie Tiere mit gleicher verächtlicher Unbekümmertheit aus dem Weg. »Sie ist hier drin, Doc. Ist gar nicht Effis Gewohnheit, sich am Tag hinzulegen, und nun ist sie schon seit vier Tagen nicht mehr aus den Federn gekrochen. Heute morgen konnte ich sie nicht mal wach bekommen. Ich habe sie so gut verarztet, wie ich es vermochte; aber es scheint nichts bei ihr anzuschlagen.«
Blair folgte den beiden Männern ins Haus, betrachtete die Kinder, die sie mit großen Augen anstarrten, und hörte zu, wie Joe Leander die Krankheitsgeschichte seiner Frau erzählte.
»Ich hackte Holz, als sich die Axtscheide vom Stiel löste und Effie gegen das Bein flog. Es war kein wirklich tiefer Schnitt; aber er blutete stark, und sie fühlte sich schwindlig und ging zu Bett — mitten am Tag! Wie ich schon sagte, ich habe sie so
Weitere Kostenlose Bücher