Herz der Finsternis
Steuerrad;
in seinen Augen leuchtete ein seltsamer Glanz. Jetzt brach das Gewehrfeuer wieder los. Er sah mich ängstlich an und umklammerte
den Speer wie eine Kostbarkeit, als fürchtete er, ich würde ihn ihm wegzunehmen versuchen. Es kostete mich Kraft, diesen Blick
abzuschütteln und mich dem Steuer zuzuwenden. Dabei griff ich mit einer Hand nach der Leine der Dampfpfeife über meinem Kopf
und ließ sie ein ums andere Mal hektisch schrillen. Augenblicklich legte sich der Aufruhr der wütenden, kriegerischen Schreie,
und dann erhob sich in der Tiefe des Waldes ein so langanhaltendes, bebendes Geheul voll trostloser Angst und schierer Verzweiflung,
als wäre eben das letzte Fünkchen Hoffnung vom Antlitz der Erde verschwunden. Im Busch war jetzt große Bewegung; der Pfeilhagel
brach ab; ein paar vereinzelte Schüsse gellten noch – dann war Stille, in der nur das schleppende Klatschen des Schaufelrads
deutlich zu hören war. Ich gab hart Steuerbordruder, und im gleichen |79| Moment tauchte der Pilger mit den rosa Pluderhosen in der Tür auf, ganz erhitzt und aufgeregt. ›Der Manager schickt mich ... ‹, begann er förmlich und brach ab. ›Gütiger Gott!‹ sagte er dann und starrte den Verwundeten an.
Wir zwei Weißen standen über ihm, und sein glänzender und fragender Blick umschloß uns beide. Ich schwöre, es wirkte, als
wollte er uns gleich eine Frage in einer verstehbaren Sprache stellen, doch er starb ohne einen weiteren Laut, ohne eine weitere
Regung, ohne ein Muskelzucken. Allein im letzten Augenblick, wie als Antwort auf ein Zeichen, das wir nicht sehen, auf ein
Flüstern, das wir nicht hören konnten, machte er plötzlich ein finsteres Gesicht, und diese Fratze gab seiner schwarzen Totenmaske
einen unbeschreiblich düsteren, brütenden und bedrohlichen Ausdruck. Der Glanz seines fragenden Blicks verblich schnell zu
glasiger Leere. ›Können Sie steuern?‹ fragte ich den Agenten drängend. Er sah mich unsicher an, doch ich packte ihn am Arm,
und er verstand sofort, daß ich ihm keine Wahl ließ. Ehrlich gesagt, ich war geradezu krankhaft darauf aus, meine Schuhe und
Strümpfe zu wechseln. ›Er ist tot‹, flüsterte der Kerl zutiefst beeindruckt. ›Ohne Zweifel‹, sagte ich, indem ich wie ein
Verrückter an meinen Schnürsenkeln zerrte. ›Und ganz nebenbei, wie ich vermute, ist Mr. Kurtz inzwischen auch tot.‹
Zu diesem Zeitpunkt war das mein beherrschender Gedanke. Ein Gefühl äußerster Enttäuschung lag darin, als hätte ich herausgefunden,
daß ich einer Schimäre nachgejagt war, die jeglicher Substanz entbehrte. Meine Enttäuschung hätte nicht größer sein können,
wäre der einzige Grund meiner Reise gewesen, mit Mr. Kurtz zu reden. Zu reden mit ... Ich warf einen Schuh über Bord und begriff, daß ich mich genau darauf gefreut hatte – mit Mr. Kurtz zu reden. Ich machte die seltsame Entdeckung, daß ich ihn mir nie handelnd, sondern immer nur sprechend vorgestellt
hatte. Versteht ihr – ich dachte |80| nicht: ›Jetzt werde ich ihn nie sehen‹ oder ›Jetzt werde ich ihm nie die Hand schütteln‹, sondern: ›Jetzt werde ich ihn nie
sprechen hören.‹ Der Mann stellte sich mir als Stimme dar. Natürlich brachte ich ihn auch mit Taten in Zusammenhang. Hatte
man mir nicht in allen Schattierungen von Neid und Bewunderung erzählt, daß er mehr Elfenbein gesammelt, getauscht, erschwindelt
oder gestohlen hatte als alle anderen Agenten zusammen? Doch das war nicht der Punkt. Der Punkt bestand darin, daß er ein
begabtes Wesen war und daß von all seinen Begabungen eine besonders hervortrat, die ein Gefühl von echter Präsenz vermittelte,
und das war seine Fähigkeit zu reden, seine Worte – die Gabe, sich auszudrücken, verwirrend, erleuchtend, am erhabensten und
am verächtlichsten, der pulsierende Strom des Lichts oder der trügerische Fluß aus dem Herzen einer undurchdringlichen Finsternis.
Der andere Schuh flog hinterher, zu diesem Teufelgott eines Flusses. Ich dachte: beim Jupiter! Jetzt ist alles vorbei. Wir
sind zu spät; er ist verschwunden – verschwunden seine Begabung durch irgendeinen Speer, einen Pfeil oder eine Keule. Nun
werde ich den Kerl am Ende doch nie reden hören – und in meinem Kummer war ein beunruhigendes Übermaß an Gefühl, dasselbe,
das ich im heulenden Kummer der Wilden im Busch gehört hatte. Ich hätte keine verzweifeltere Einsamkeit empfinden können,
wenn mir der Glauben
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