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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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ausgeführt und war rein fürsorglicher Natur.
    |74| Es passierte schätzungsweise zwei Stunden, nachdem sich der Nebel gehoben hatte, und der Ausgangspunkt war eine Stelle, grob
     gesagt etwa anderthalb Meilen unterhalb von Kurtz’ Station. Wir hatten uns gerade mühsam um eine Biegung gequält, als ich
     eine kleine Insel sah, kaum mehr als ein grasiger Buckel leuchtenden Grüns in der Flußmitte. Sie war die einzige ihrer Art,
     aber nachdem wir die Biegung passiert hatten, bemerkte ich, daß sie den Anfang einer langen Sandbank bildete oder besser einer
     Kette von Untiefen, die sich in der Flußmitte erstreckte. Die Buckel waren farblos, kaum von Wasser bedeckt, und die ganze
     Gruppe lag unter der Wasseroberfläche wie die menschliche Wirbelsäule in der Rückenmitte unter der Haut. Soweit ich es überblickte,
     konnte ich mich entweder rechts oder links davon halten. Natürlich kannte ich beide Flußarme nicht. Die Ufer sahen nahezu
     gleich aus, die Tiefe schien dieselbe zu sein, aber da man mir gesagt hatte, die Station liege am Westufer, steuerte ich instinktiv
     die westliche Passage an.
    Kaum waren wir hinein gefahren, stellte ich fest, daß die Fahrrinne viel schmaler war, als ich angenommen hatte. Links von
     uns befand sich die lange durchgehende Sandbank und rechts ragte ein steiles Ufer auf, das dicht mit Büschen bewachsen war.
     Darüber standen in geschlossenen Reihen die Bäume. Ihr dichtes Zweigwerk hing über der Strömung, und immer wieder ragte der
     mächtige Arm eines Baums starr auf den Strom hinaus. Es war schon spät am Nachmittag, der Wald sah düster aus und ein breiter
     Schattenstreifen fiel bereits auf das Wasser. In diesem Schatten stampften wir hinauf, sehr langsam, wie ihr euch vorstellen
     könnt. Ich scherte in Richtung des Ufers aus, denn das Wasser war in Ufernähe am tiefsten, wie mir die Peilstange verriet.
    Einer meiner hungrigen und geduldigen Freunde lotete unter mir am Bug. Der Dampfer war konstruiert wie eine gedeckte |75| Schute. Auf Deck befanden sich zwei kleine Teakholzkabinen mit Türen und Fenstern. Vorn war der Heizkessel und die Maschinen
     waren achtern dahinter, darüber auf Stützpfosten ein leichtes Dach. Der Schornstein ragte durchs Dach hindurch, und oben vor
     dem Schornstein diente eine kleine Kabine aus hellen Brettern als Ruderhaus. Sie enthielt ein Bett, zwei Feldstühle, ein geladenes
     Martini-Henry-Gewehr, das in der Ecke lehnte, einen winzigen Tisch und das Steuerrad. Die Kabine hatte eine große Tür vorn
     und auf jeder Seite breite Fensterläden. Natürlich stand alles immer weit offen. Ich verbrachte dort oben meine Tage, indem
     ich vor der Tür hockte, an der äußersten Spitze des Dachs. Nachts schlief ich auf dem Bett oder versuchte es zumindest. Der
     Steuermann war ein athletischer Schwarzer von irgendeinem Küstenstamm, den noch mein armer Vorgänger ausgebildet hatte. Er
     trug ein Paar Messingohrringe und ein blaues Wickeltuch um die Hüften, das ihm bis zu den Knöcheln reichte, und war sehr eingebildet.
     Er war der labilste Narr, den ich je gesehen hatte. Er steuerte stolz wie ein Pfau, solange man neben ihm stand, doch kaum
     war man außer Sichtweite, erlag er irgendeiner wilden Angst und ließ sich nach einer Minute von diesem Krüppel von Dampfer
     unterkriegen.
    Ich blickte zur Peilstange hinunter und ärgerte mich, weil sie jedesmal ein Stückchen mehr aus dem Fluß ragte, da sah ich,
     daß mein Peilmann plötzlich seine Tätigkeit aufgab und sich flach auf Deck ausstreckte, ohne sich auch nur die Mühe zu machen,
     die Stange einzuziehen. Er hielt sie allerdings noch fest, und sie wurde im Wasser nachgeschleppt. Zur gleichen Zeit setzte
     sich der Heizer, den ich ebenfalls von oben sehen konnte, jählings vor seinem Ofen hin und zog den Kopf ein. Ich war verblüfft.
     Dann mußte ich mich ziemlich schnell dem Fluß zuwenden, denn dort lag ein Baumstamm in der Fahrrinne. Durch die Luft schwirrten
     lauter Stöcke, kleine Stöcke, |76| etliche davon; sie sausten mir an der Nase vorbei, fielen unter mir aufs Deck, schlugen hinter mir gegen das Ruderhaus. Doch
     die ganze Zeit über waren der Fluß, das Ufer, der Wald ganz still – vollkommen still. Ich hörte nichts als das schwere Klatschen
     des Heckrads und das Schwirren dieser Dinger. Schwerfällig wichen wir dem Baumstamm aus. Pfeile, bei Gott! Wir wurden beschossen!
     Ich trat schnell in die Kabine, um den Fensterladen zum Ufer hin zu schließen. Der dumme Steuermann

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