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Herz der Finsternis

Titel: Herz der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Conrad
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der Finsternis ihn für sich beanspruchten. Das war die Überlegung, die
     einem Schauer über |83| den Rücken jagte. Es war unmöglich – und auch nicht gesund – es sich auszumalen. Er hatte einen Thron neben den Teufeln des
     Landes bestiegen – buchstäblich, meine ich. Ihr könnt das nicht verstehen? Wie könntet ihr? – mit festem Pflaster unter den
     Füßen, umgeben von netten Nachbarn, jederzeit bereit, euch beizuspringen oder über euch herzufallen, während ihr bedächtig
     zwischen Metzger und Schutzmann einherschreitet, in heiliger Angst vor Skandalen, dem Galgen und dem Irrenhaus – wie könntet
     ihr euch vorstellen, in welche Region der Frühzeit die nackten Füße einen Mann tragen können – in die Einsamkeit – die äußerste
     Einsamkeit ohne Schutzmann – in die Stille – die äußerste Stille, wo keine nette Nachbarsstimme flüsternd vor der öffentlichen
     Meinung warnt? Diese Kleinigkeiten machen den großen Unterschied. Fallen sie weg, ist man gezwungen, auf die eigene angeborene
     Stärke zurückzugreifen, auf die eigene Kraft zur Wahrhaftigkeit. Natürlich kann es sein, daß man ein zu großer Narr ist, um
     in die Irre zu gehen – zu geistlos, um überhaupt zu merken, daß die Mächte der Finsternis angreifen. Ich glaube, kein Narr
     hat je einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Entweder ist der Narr zu sehr Narr oder der Teufel zu teuflisch – was, weiß
     ich nicht. Oder du bist ein so schrecklich erhabenes Wesen, daß du vollkommen taub und blind für alles außer himmlische Anblicke
     und Töne bist. Dann ist die Erde nur ein Zwischenhalt – ob so zu sein Verlust oder Gewinn ist, wage ich nicht zu entscheiden.
     Doch die meisten von uns sind weder das eine noch das andere. Für uns ist die Erde der Ort, an dem wir leben, und wir müssen
     ihre Anblicke, Töne und auch die Gerüche hinnehmen, bei Gott! – sozusagen totes Flußpferd atmen, ohne davon verseucht zu werden.
     Und hier, versteht ihr, kommt die eigene Stärke ins Spiel, der Glaube an die eigene Fähigkeit, unauffällige Löcher auszuheben,
     um das Zeug darin zu verscharren – die Kraft, treu zu sein, nicht sich selbst, sondern einem obskuren |84| , mörderischen Unterfangen. Und das ist schwer genug. Ich versuche nichts zu entschuldigen oder auch nur zu begründen – ich
     versuche nur, es mir selbst zu erklären – ihn – Mr.   Kurtz – den Schatten von Mr.   Kurtz. Dieses eingeweihte Phantom von jenseits des Nirgendwo beehrte mich mit seinem erstaunlichen Vertrauen, bevor es gänzlich
     verschwand. Er tat es, weil er mit mir englisch sprechen konnte. Der ursprüngliche Kurtz war zum Teil in England erzogen worden,
     und – er war so gut, es mir selbst zu sagen – seine Sympathie gehörte der richtigen Seite. Seine Mutter war halb Engländerin,
     sein Vater halb Franzose. Ganz Europa hatte bei Kurtz’ Entstehung mitgewirkt; und nach und nach erfuhr ich, daß ihn, äußerst
     passend, die Internationale Gesellschaft zur Unterdrückung Primitiver Gebräuche damit betraut hatte, als Richtlinie für die
     Zukunft einen Bericht anzufertigen. Und er hatte ihn auch verfaßt. Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn gelesen. Sein Bericht
     war eloquent, strotzte geradezu vor Eloquenz, wenn er für meinen Geschmack auch zu geschwollen war. Siebzehn engbeschriebene
     Seiten. Dafür hatte er Zeit gefunden! Das muß gewesen sein, bevor – sagen wir – die Nerven mit ihm durchgingen und er infolgedessen
     den Vorsitz bei gewissen Mitternachtstänzen innehatte, die in unaussprechlichen Riten endeten, und zwar – soweit ich mir widerwillig
     aus dem zusammenreimte, was ich verschiedentlich aufschnappte – ihm zu Ehren – versteht ihr – Mr.   Kurtz selbst. Aber der Aufsatz war brillant. Allerdings erscheint mir die Einleitung jetzt, im Licht späterer Informationen,
     bedenklich. Er begann mit dem Argument, daß wir Weißen, von unserem Stand der Entwicklung aus, ›ihnen [den Wilden] notwendigerweise
     als übernatürliche Wesen erscheinen müssen – wir kommen zu ihnen mit der Autorität von Göttern‹ und so weiter und so weiter.
     ›Durch die schlichte Ausübung unseres Willens sind wir in der Lage, eine Macht zum Guten auszuüben, die |85| praktisch keine Grenzen kennt‹ etc. etc. Von da stieg er empor und riß mich mit. Das Schlußwort, ich sage euch, war großartig,
     wenn auch schwer zu merken. Es vermittelte mir die Idee einer exotischen Unermeßlichkeit, die von erhabener Güte beherrscht
     wurde.

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