Herz der Finsternis
vom Ufer hinter dem blendenden Weiß des Nebels.
Zwei Pilger stritten sich hastig flüsternd darum, von welchem Ufer es gekommen war. ›Links.‹ ›Nein, nein, wie kannst du das
sagen? Rechts, rechts, natürlich.‹ ›Die Lage ist sehr ernst‹, sagte die Stimme des Managers hinter mir; ›ich wäre untröstlich,
wenn Mr. Kurtz irgend etwas zustoßen sollte, bevor wir dort sind.‹ Ich sah ihn an und hatte nicht den leisesten Zweifel, daß er es
ehrlich meinte. Er war der Typ von Mann, der den Schein wahren wollte. Das war seine Art der Selbstbeherrschung |72| . Als er aber knurrte, wir müßten sofort los, machte ich mir nicht einmal die Mühe zu antworten. Ich wußte, und er wußte,
daß das unmöglich war. Sobald wir unseren Halt am Grund verlören, würden wir völlig in der Luft hängen – im Raum. Wir würden
nicht wissen, wohin wir führen – flußaufwärts oder flußabwärts oder hinüber –, bis wir an einem oder dem anderen Ufer aufliefen – und selbst dann wüßten wir erst einmal nicht, an welchem. Natürlich
rührte ich mich nicht. Ich hatte keine Lust zu zerschellen. Ein tödlicherer Ort für einen Schiffbruch war nicht vorstellbar.
Ob wir sofort ertranken oder nicht, auf die eine oder die andere Art würden wir sicher umkommen. ›Ich ermächtige Sie, alle
Risiken zu tragen‹, sagte er nach kurzem Schweigen. ›Ich weigere mich, irgendwelche einzugehen‹, sagte ich kurz, und das war
genau die Antwort, die er erwartete, auch wenn ihn mein Ton überrascht haben mochte. ›Nun, ich muß mich Ihrem Urteil beugen.
Sie sind der Kapitän‹, antwortete er mit ausgesuchter Höflichkeit. Als Zeichen meiner Wertschätzung drehte ich ihm den Rücken
zu und blickte hinaus in den Nebel. Wie lange würde es dauern? Es war ein absolut hoffnungsloser Ausblick. Die Fahrt zu diesem
Kurtz, der den verdammten Busch nach Elfenbein durchkämmte, barg so viele Gefahren, als wäre er eine verzauberte Prinzessin,
die in einem Märchenschloß schlief. ›Denken Sie, sie werden angreifen?‹ fragte der Manager vertraulich.
Ich dachte nicht, daß sie angreifen würden, aus mehreren Gründen, die auf der Hand lagen. Einer davon war der dichte Nebel.
Wenn sie in ihren Kanus vom Ufer ablegten, würden sie sich darin verirren wie wir, hätten wir versucht, uns zu bewegen. Aber
ich hatte auch den Dschungel an beiden Ufern für ziemlich undurchdringlich gehalten – und doch gab es dort Augen, Augen, die
uns gesehen hatten. Das Buschwerk direkt am Fluß war wirklich sehr dicht, doch offenbar war das Unterholz |73| dahinter passierbar. Jedenfalls hatte ich in der kurzen Zeit, als sich der Nebel hob, keine Kanus irgendwo auf dem Fluß gesehen
– erst recht nicht auf Höhe des Dampfers. Aber was letztlich die Vorstellung eines Angriffs für mich unvorstellbar machte,
war die Natur der Laute – der Schreie, die wir gehört hatten. Es lag nichts Grimmiges darin, das einen feindlichen Angriff
angekündigt hätte. So unerwartet, wild und heftig sie waren, hinterließen sie bei mir doch den unwiderstehlichen Eindruck
von tiefem Kummer. Aus irgendeinem Grund hatte der Anblick des Dampfers die Wilden in hemmungslose Trauer gestürzt. Wenn,
so folgerte ich, dann bestand die Gefahr darin, daß wir uns in unmittelbarer Nähe einer großen menschlichen Leidenschaft befanden,
die entfesselt war. Sogar extreme Trauer kann sich schließlich in Gewalt entladen – doch normalerweise äußert sie sich eher
in Formen der Apathie ...
Ihr hättet die Pilger sehen sollen, wie sie stierten! Sie hatten nicht den Mut, zu grinsen oder mich zu beschimpfen, aber
ich schätze, sie dachten, ich wäre verrückt geworden – vielleicht vor Angst. Ich hielt ihnen einen regelrechten Vortrag. Meine
Lieben, es war die Mühe nicht wert. Ausschau halten? Nun, wie ihr euch denken könnt, beobachtete ich den Nebel auf Anzeichen,
daß er sich heben würde, wie die Katze die Maus, doch für alles weitere taugten unsere Augen soviel, als wären wir klaftertief
unter Watte begraben. Und genauso fühlte es sich an – drückend, warm, stickig. Nebenbei bemerkt, stellte sich alles, was ich
gesagt hatte, als vollkommen richtig heraus, wenn es auch seltsam klang. Was wir im nachhinein als Angriff bezeichneten, war
in Wirklichkeit der Versuch, uns abzuwehren. Die Unternehmung war alles andere als aggressiv; nicht einmal defensiv im herkömmlichen
Sinn; sie wurde unter dem Druck der Verzweiflung
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