HERZ HINTER DORNEN
ihren Vater von der Lauterkeit seiner Absichten zu überzeugen?
Dazu hätte sie erst einmal eine Erklärung für sein Versteckspiel bekommen müssen, und die Vernunft sagte ihr, dass diese Erklärung ihrem Vater erst recht nicht gefallen würde. Der Lord von Hawkstone verabscheute die jungen, ehrgeizigen Krieger, die sich um Robert Kurzhose scharten und von Ruhm und Ehren träumten. Und er verachtete den ruhmsüchtigen Sohn des Eroberers, der ohne zu zögern den eigenen Vater getötet hätte, um sich in den Besitz seines Thrones zu bringen.
Roselynne unterdrückte einen jämmerlichen Seufzer. Auch ohne die dynastischen Fehden des Königshauses war ihr Leben kompliziert genug. Es fiel ihr schwer, die eigenen Gefühle zu begreifen. Es gärte in ihr, schlimmer als in den Fässern des Brauhauses von Hawkstone. Was konnte, was durfte, was sollte sie tun?
Sie hätte nicht zu sagen gewusst, welche Macht sie im Dunkel der mondlosen Nacht ruhelos über die Höfe, Gänge und Pforten ausgerechnet in den alten Garten der verstorbenen Königin trieb. Zwischen den mit Efeu umrankten Säulen der alten Laube sank sie auf die kühle Steinfläche einer Marmorbank, als hätte sie jede Kraft verlassen.
Der böige Nachtwind war im Schutz der hohen Mauern nur mehr eine sanfte Brise, die nach alter Erde, den nahen Ställen und welkem Laub roch. Die Stille völliger Verlassenheit lag über Königin Mathildas vergessenem Refugium. Rufus hatte keine Gefährtin, die es für sich in Anspruch nahm, und Prinzessin Mathilda respektierte noch nach Jahren den Wunsch ihres Vaters, der nach dem Tod seiner geliebten Gemahlin nicht geduldet hatte, dass man etwas an den Dingen veränderte, die ihr teuer gewesen waren.
»Himmlische Mutter«, wisperte Roselynne dieses Mal gedämpfter und von tiefer Reue erfüllt. »Ich habe alles falsch gemacht. Sicher hält er mich für eine zänkische Person, die sich in Männerdinge mischt. Für ein Frauenzimmer, das seinen Mund nicht halten kann. Hat mich nicht Grytha wieder und wieder ermahnt, meine Launen im Zaum zu halten, mein Temperament zu zügeln?«
Warum solltest du es tun? mischte sich jene rebellische Seite ihrer Person ein, die sie zeit ihres Lebens in Schwierigkeiten brachte und dazu verführte, Dinge zu sagen, die sich nicht gehörten. Du hast nur die Wahrheit ausgesprochen. Robert Kurzhose ist ein ehrgeiziger Ränkeschmied, für den nur die Macht und die Krone zählen. Wieso solltest du es nicht aussprechen dürfen? Weil du eine Frau bist? Das ist lächerlich! Frauen sind ebenso im Besitz eines Verstandes wie Männer. Es ist ärgerlich genug, dass viele von ihnen diesen Verstand verleugnen und ihre Männer für sich denken lassen.
Es war kalt und sie rieb sich fröstelnd die Oberarme. Die Kälte erstickte auch ihre letzten Hoffnungen. Sie hatte sich so viel von diesem Festmahl erwartet. Sie hatte Justin d'Amonceux mit ihrer Schönheit verwirren wollen, mit ihrer Sanftmut bezaubern und mit ihrem Charme erobern. Aber was hatte sie stattdessen getan?
Vorlaute Bemerkungen gemacht und die Loyalität in Zweifel gezogen, mit der ein ehrenhafter Ritter seinem Fürsten dienen sollte.
Die Worte brachen allzu oft aus ihr heraus, wenn sie selbst am wenigsten damit rechnete, und meist waren sie das genaue Gegenteil von allem, was ein Mädchen von Adel und guter Erziehung sagen durfte. Grytha, die energische Kinderfrau des Cambremer-Nachwuchses, hatte in solchen Fällen entrüstet die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und etwas von dem verhängnisvollen Erbe genuschelt.
Wessen Erbe? Dass ihre Mutter, Lady Liliana, in jungen Jahren jemals die Beherrschung verloren haben sollte, schien ihr schlicht unglaublich zu sein. Auch ihren stolzen Vater kannte sie nur als wahres Bollwerk der Stärke und Unerschütterlichkeit. Wieso hatte sie nicht ein wenig mehr von ihren noblen Eigenschaften geerbt?
Roselynne unterdrückte ein Schluchzen und stand auf. Es war definitiv zu kalt, um in einer solchen Umgebung Gewissenserforschung zu betreiben. Neben dem leisen Rascheln ihres Gewands hörte sie jedoch plötzlich noch andere Geräusche. Schritte, gedämpfte Stimmen. Männerstimmen.
Hastig brachte sie sich im Dunkel hinter der Laube in Sicherheit. Wer immer gleich ihr einen Zufluchtsort suchte, sie wollte nicht von ihm entdeckt werden. Schon gar nicht wollte sie Rechenschaft darüber ablegen, was sie selbst an diesen Ort geführt hatte.
Dummerweise kamen die Schritte unaufhaltsam näher, und die Stimmen wurden,
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