Herz im Spiel
Kutsche auf das Gut von Kingsbrook ein. Der Boden war einige Zentimeter hoch mit Schnee bedeckt, der auf der Landstraße zu Matsch geworden war, im Park von Kingsbrook aber unberührt dalag. Die Sonne brachte ihn zum Glitzern und ließ die Wiese und die Weiden um das Herrenhaus herum aussehen, als seien sie mit winzigen Kristallsplittern überzogen.
Als sie eintrat, rief Mrs River vom Salon aus nach ihr. Zweifellos war die Haushälterin durch das laute Öffnen und Zufallen der Tür auf sie aufmerksam geworden, durch den Schwall kalter Luft, die eindrang, und das Geräusch, das Marianne verursachte, als sie versuchte, den Schnee, der an ihren schweren Winterschuhen haftete, abzutreten.
„Wir sind hier drinnen, Miss Marianne“, rief Mrs River.
Marianne war sich bewusst, dass das leichte Zittern, das sie bei Mrs Rivers Worten überlief, nicht auf die Kälte zurückzuführen war, sondern auf ihre gespannte Vorfreude. Sie strich sich eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte an ihrem Kleid hinunter, um sich zu vergewissern, dass ihr Gürtel gerade saß und sie sich den Schmutz vom Rocksaum gewischt hatte. Sie wünschte, hier würde ein Spiegel hängen, und überlegte ärgerlich, warum das nicht der Fall war. Manchmal musste eine Frau sicher sein, dass sie so gut wie möglich aussah.
„Miss Marianne, das ist Candy Miller. Candys Familie stammt aus der Nähe von King’s Crossing“, erläuterte Mrs River. Sie saß auf dem Sofa, zusammen mit einem Mädchen, das Marianne bekannt vorkam. Marianne war sicher, sie und ihre Familie schon einmal hier auf Kingsbrook gesehen zu haben, oder in Reading. Candys schlichtes, ziemlich grobes Gesicht wirkte freundlich.
Überrascht streckte Marianne dem Mädchen die Hand entgegen. Candy war aufgesprungen, als Mrs River sie vorgestellt hatte, und schüttelte Marianne jetzt heftig die Hand.
„Freu’ mich, Sie kennenzulernen, Miss. Klar hab’ ich Sie und den Herrn schon überall gesehen, auch wenn Sie keine Ahnung haben, wer ich bin, weiß schon“, sprudelte sie heraus.
„Candy Miller?“, wiederholte Marianne verdutzt.
„Candy soll Alices Stelle einnehmen“, sagte Mrs River.
„Alice ist fort?“
„Sie hat vergangenen Monat geheiratet. Ich hätte Ihnen davon geschrieben, aber ich wusste ja, dass Sie zu Weihnachten herkommen. Einen netten jungen Mann, David Trout. Sie kennen sich schon von Kindesbeinen an, aber irgendwann ist David plötzlich fünfzehn Zentimeter gewachsen, und die liebe kleine Alice sagt, sie sei einfach hingerissen gewesen“, meinte Mrs River nachsichtig lächelnd.
„Ich verstehe. Nun, ich muss ihr ein Geschenk schicken. Alice wird mir fehlen, aber Sie sind auf jeden Fall herzlich willkommen, Miss Miller“, erwiderte Marianne pflichtbewusst.
„Einfach nur Candy. Und vielen Dank, Miss.“
Marianne wandte sich an Mrs River. „Wo ist denn Mr Desmond? Ich hatte erwartet … ich dachte, er würde hier sein.“ Sie versuchte erfolglos, die Enttäuschung in ihrer Stimme zu verbergen.
„Der Herr ist geschäftlich nach London gefahren, und danach wollte er noch für ein paar Tage nach Reading, um die Dudleys zu besuchen.“
„Die Dudleys?“, fragte Marianne. Den Namen hatte sie noch nie gehört.
„Flüchtige Bekannte. Allerdings weiß ich, dass Mrs Dudleys Cousine die Feiertage bei derFamilie verbringt, was vielleicht das plötzliche Wiederaufleben der alten Freundschaft erklärt“, bemerkte Mrs River. „Sie können gehen, Candy. Jetzt, da Miss Marianne zurück ist, wird Mrs Rawlins Sie in der Küche brauchen.“
„Ich weiß aber nicht …“, begann Candy, und Mrs River stand resigniert seufzend vom Sofa auf.
„Am besten, ich gehe mit Ihnen“, lenkte die Haushälterin ein. Mrs River wünschte dem jungen Paar natürlich alles Glück der Welt, aber hätten sie nicht wirklich warten können, bis Alice das neue Hausmädchen in seine Pflichten eingeführt hatte? Liebe konnte manchmal furchtbar unpraktisch sein.
Marianne blieb allein im Salon zurück. Mrs River war gegangen, um dem neuen Mädchen zu helfen. Alice, die hier gearbeitet hatte, seit Marianne nach Kingsbrook gekommen war, war fort. An jenem ersten grässlichen Abend, als Mr Desmond sie hergebracht hatte, war sie als Einzige nett zu ihr gewesen. Jetzt hatte sie geheiratet. Und Mr Desmond besuchte Freunde in Reading.
Flüchtige Bekannte nur, aber offensichtlich waren sie ihm wichtiger als sie.
„Sie haben das Mädchen gefunden?“
Wieder hatte Desmond das Büro der
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