Herz ueber Bord
Tauchzubehör hinter mir gelassen hatte, kam ich an einem Tattoostudio vorbei. Ich blieb vor der Auslage stehen und betrachtete die verschiedenen Motive. Unter anderem war da das Foto eines Schmetterlings mit ausgebreiteten Flügeln. So einen wünschte ich mir schon lange auf meiner Schulter. Ob ich ihn mir heute stechen lassen sollte? Mum würde zwar einen Aufstand machen, wenn sie erführe, dass ich mir aus einer Laune heraus auf einer kleinen Karibikinsel ein Tattoo hatte stechen lassen. Doch egal. Ich war alt genug, um allein zu entscheiden. Und da ich arbeitete, konnte ich mir das Tattoo auch leisten.
Ich kam näher und hörte das leise Summen der Tätowiermaschine, während die Nadeln in die Haut von jemandem eindrangen. Dass die Prozedur wehtat, war bisher der Grund gewesen, weshalb ich mir noch kein Tattoo hatte stechen lassen. Ich sprach mir stummen Mut zu, den kleinen Laden zu betreten. Und tatsächlich, nur vier Schritte und ich stand im Türrahmen.
Nun, wo ich bis zum Eingang gekommen war, sah ich, dass eine junge Frau von dem Tätowierer bearbeitet wurde. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt und hielt ihm mutig ihren Arm hin. Der Mann arbeitete konzentriert und ich stand wie gebannt da und verfolgte die Szene. Sah, wie er immer wieder den Arm der jungen Frau mit einem Tuch abtupfte.
»Natou!«, murmelte ich leise vor mich hin, als ich erkann te, wer in dem Stuhl saÃ. Auch in der Beziehung hatte sie mir also etwas voraus: fehlende Angst vorm Tätowieren. Normalerweise wäre ich jetzt frustriert und enttäuscht abgezogen, weil sie schon wieder etwas besser konnte als ich, doch plötzlich fiel mir ein, dass eine Menge dagegen sprach, sich im Urlaub ein Tattoo stechen zu lassen. Nach der Prozedur musste man die tätowierte Stelle vor Wasser schützen, damit es zu keiner Infektion kam. Keine gute Idee, wenn man sich auf einem Trip in die Karibik befand und im Meer tauchen wollte. Hatte Natou das etwa nicht bedacht? Oder hatte sie keine Lust auf Tauchen und Schnorcheln? Schwer vorstellbar.
Ich war schon dabei, mich umzudrehen, als Natou etwas zu dem Tätowierer sagte. Es waren nur Buchstaben, die sie auf Englisch aussprach. Doch sie sorgten dafür, dass ich wie angewurzelt stehen blieb. Natou buchstabierte ein B, dann ein R, ein I, ein A und zuletzt ein N. Brian!
»Tätowieren Sie mir neben die beiden verschlungenen Herzen die Buchstaben B.R.I.A.N.«, verlangte sie.
Brian! Es traf mich wie ein Peitschenschlag. Plötzlich hatte ich das Gefühl, meine Beine würden nachgeben. Sie schienen weich wie Pudding zu sein. Ohne Knochen, die sie zusammenhielten. Und Bänder und Sehnen.
»Yes, yes!«, versprach der Mann und wiederholte die Buchstaben. »BRIAN.«
Natou wollte sich Brians Namen auf den Oberarm tätowieren lassen! An eine Stelle, wo jeder es sehen konnte. Was für mich nur eins bedeuten konnte: Die beiden waren ein Paar und Brian hatte es mir gegenüber mit keinem Wort erwähnt.
Eine Viertelstunde später stand ich vor dem kleinen Häuschen des Leuchtturmwärters an der Nordspitze von Grand Turk. Keinen Schimmer, wie ich dort hingekommen war. Eine Frau, die ebenfalls auf der MSC Harmony reiste, stand neben mir und bestaunte das Gebäude. Sie erzählte, dass der Turm im 19. Jahrhundert gebaut worden war und nun unter Denkmalschutz stand. Im März könne man hier, mit ein bisschen Glück, sogar Buckelwale sehen.
»Hier, an dieser Stelle«, sagte sie und deutete sehnsüchtig aufs Meer.
Ich brummte nur eine missmutige Antwort vor mich hin. Was interessierten mich jetzt schon irgendwelche Buckelwale? Ich fühlte mich wie einmal auseinandergenommen und nicht wieder richtig zusammengesetzt. Der gröÃte Vollidiot, der je in einem Sommerkleid auf Grand Turk herumspaziert ist ⦠Ich bemerkte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen.
»Ach, du Arme«, sagte die Frau, die meinen verzweifelten Gesichtsausdruck gesehen haben musste. »Habe ich irgendwas Falsches gesagt?«
»Nein, nein«, entschuldigte ich mich schnell und wischte mir verstohlen die Augen. »Sie können nichts dafür, dass ich jemanden geküsst habe, der mit einer anderen zusammen ist.«
War es nicht so, dass Menschen im Urlaub Dinge taten, die sie sich zu Hause nie zugetraut hätten? Ich hatte erst vor Kurzem einen Roman über Abi-Reisen in die Türkei gelesen. Party ohne Ende. Fremdküssen und
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