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Herz und Fuß

Herz und Fuß

Titel: Herz und Fuß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Bax
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Gras. Die Luft war schwer vom Geruch des kleinen Flusses, der sich erst langsam von den vielen Jahrzehnten als oberirdischer Abwasserkanal erholte.
     
    »Komm.« Ich zog Irene weg von der Mündung zu einer Bank, die unter einer schwach gelblich schimmernden Laterne ein wenig weiter auf dem Rheindeich stand. Wir setzten uns und schauten auf ein Panorama, das es so wohl nirgendwo auf der Welt noch einmal gab. Vor uns floss der große Fluss träge in einem riesigen Bogen der Nordsee entgegen. Auf seiner anderen Uferseite standen Kühe wie Scherenschnitte regungslos auf idyllischen Wiesen und von der Seite warfen die Scheinwerfer eines riesigen Kraftwerks tanzende Lichter in den Fluss. Der große, immer leicht dampfende Kühlturm stand wie ein dunkler Wächter in der Nacht.
     
    »Wilde Mischung!« Sie drückte begeistert meine Hand und ich war glücklich, dass sie diesen Ort begriff. SIE hatte ich nie mit hierhin genommen, und ich hatte IHR auch nie von jenem Stein erzählt.
     
    Die Nacht um uns herum war erfüllt von kleinen Geräuschen, aber hier wirkten sie weniger bedrohlich. Es plätscherte, raschelte und brummte abwechselnd, einzeln und gemeinsam. Ein nächtliches Orchester aus Natur und Industrie, das nie übers Stimmen hinauskam.
     
    »Es ist wunderbar hier. Kommst du nur wegen der Sache mit dem Stein her?«
     
    »Nein.« War das jetzt Intuition oder hatte sie auf gut Glück gefragt? »Ist kein sehr fröhlicher Grund. Magst du ihn trotzdem hören?«
     
    »Natürlich.« Ich konnte auch in dem wenigen Licht sehen, dass sie das ernst meinte.
     
    »Mein Vater ist vor fünf Jahren tödlich mit dem Auto verunglückt. Meine Mutter war mit im Wagen und ist seitdem nicht mehr die Frau, die sie vorher war. Was nicht das Schlimmste ist, aber das ist eine andere Geschichte. Alles andere war schlimm. Er wollte immer anonym beerdigt werden und das haben wir auch gemacht. Und dann haben wir uns gemeinsam einen Platz zum Trauern gesucht, den meine Mutter zu Fuß erreichen konnte und der uns allen etwas bedeutet. Mein Vater hat hier gerne geangelt. Meine Mutter hat seinen Fang immer brav eingefroren und später heimlich weggeworfen und durch Fische aus dem Fischgeschäft ersetzt. Ich bin sicher, er hat das gewusst, aber er hat nie etwas gesagt.«
     
    Irene schaute auf das schwarze Wasser, das unermüdlich die Steine am Ufer polierte, und nickte. »Gefällt mir besser als die meisten Friedhöfe.« Sie lehnte sich zurück und wir schwiegen eine Weile.
     
    »Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie das ist, so plötzlich ein Elternteil zu verlieren …« Irene suchte meinen Blick, der gerade bei den kauenden Kühen weilte.
     
    Ich sah sie kurz an und dann wieder die Kühe. »Das Schlimmste war der Moment, als die Polizei mitten in der Nacht geklingelt hat und mich bat, mit ins Krankenhaus zu kommen. Kannst du dir das vorstellen? Dieses winzige vertraute Geräusch der Türklingel, das zwischen der Normalität und der Katastrophe lag. Man bekommt keine Zeit, sich vorzubereiten, sich zu schützen. In einem Moment lag ich noch im Bett und las und im nächsten stand ich im grellen Licht eines Warteraumes neben meiner Mutter, die kein Wort sprach, und meinem Bruder, der leichenblass war, und wir warteten darauf zu hören, ob mein Vater überleben würde. Nach dieser Nacht war alles anders. Aber da ich mich um meine Mutter kümmern musste, war für mich selber kaum Zeit zu trauern. Zwei Jahre später habe ich einen Zeitungsartikel gelesen und hatte plötzlich das Bedürfnis, meinen Vater zu fragen, was er darüber denkt. Ich glaube da habe ich zum ersten Mal wirklich um ihn geweint.«
     
    »Siehst du ihm ähnlich?« Irene musterte mich intensiv.
     
    »Wie kommst du denn darauf?« Es war nicht nur ihre Frage, sondern auch dieser tiefe Blick, der mich verwirrte.
     
    »Naja, auf deine Mutter kommst du nicht. Jedenfalls nicht, was das Aussehen angeht.«
     
    Zum ersten Mal seid längerer Zeit stellte ich mir bewusst meinen Vater vor.
     
    »Ja, ich denke, ich sehe ihm ähnlich. Jetzt, wo ich älter bin sicher mehr als früher.«
     
    »Ich hätte ihn gerne kennengelernt, er muss ein gut aussehender Mann gewesen sein.«
     
    Irene sagte das, ohne jeden Anflug von Flirt in der Stimme, was es noch anziehender machte.
     
    »Das sage ich meiner Mutter, dass du ihrem verstorbenen Gatten nachstellen wolltest.«
     
    Sie lachte und die Gänse im Gras hoben misstrauisch die Köpfe. Die grünen Füße und der neue Fund verschwanden langsam

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