Herz und Fuß
aus meinem Kopf, die Nacht war nur noch Tag ohne Licht und nicht mehr. Dann begann Irene plötzlich von ihrer Beziehung zu Markus zu erzählen und davon, wie sehr sie sich auf das gemeinsame Leben freute. »Nach der Hochzeit suchen wir erst einmal eine größere Wohnung.«
»Hmhm.« Die Nacht war doch kühl, ich begann zu frieren.
Irene war eine Weile still und rutschte dann plötzlich unruhig auf der Bank herum. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Hm.«
»Und du versprichst mir, ehrlich zu antworten?«
»Hm.«
Sie wich meinem prüfenden Blick aus. Mein Magen begann heftig zu schlagen. Was bedeutete diese Unruhe beim Thema Hochzeit? Geschah jetzt das Wunder? Wollte sie vor ihrem Jawort mehr über die Liebe zwischen Frauen erfahren? Vielleicht im Speziellen über den physischen Teil? Mir wurde schwindelig und meine Gedanken überschlugen sich. Konnte ich das denn tun? Konnte ich mit Irene schlafen, um ihre Neugier und einiges andere zu befriedigen?
Jetzt?
Heute Nacht?
Sie schob mit einem Fuß die kleinen Kieselsteinchen vor unserer Bank hin und her.
»Ok, ich … es ist ein etwas seltsames Angebot. Irgendwie ist mir das peinlich.« Sie hielt inne und schob die Kieselsteinchen zur Abwechslung mit beiden Füßen aufeinander zu.
Nein, dachte ich, das ist kein seltsames Angebot. Es ist vollkommen natürlich, eine lesbische Frau um eine gemeinsame Nacht zu bitten. Das kam überall auf der Welt ständig vor. Jetzt gerade im Moment saßen auf allen Kontinenten verlobte Heterofrauen neben alleinstehenden Lesben und baten sie um die Chance, ihre sexuelle Orientierung zu überprüfen.
Irene holte tief Luft und sagte nichts.
»Raus damit!« Ich tat locker und entspannt und überlegte innerlich welche Unterwäsche ich eigentlich trug.
»Du findest es bestimmt albern.«
»Frag mich endlich.«
»Ich weiß, dass das eine seltsame Frage ist, da wir uns ja erst so kurz kennen, aber … würdest du meine Trauzeugin sein wollen?«
An diesem Moment war alles richtig. Die Personen, der Platz, die Nacht, alles stimmte, nur die Frage hätte anders lauten sollen. Komplett anders. Ich drückte auf meinen schmerzenden Magen und sah ihr in die Augen. Sie sah verunsichert und abwartend aus. Ich blickte wieder auf den Rhein, der sich nicht in Wein verwandelt hatte, und befahl mir, den Schmerz zu ignorieren. »Und wer spielt dann Mundharmonika?«
»Heißt das ja?« Sie grinste mich an.
»Das heißt auf jeden Fall ja.« Durch meinen Kopf zogen die vielen Fragen, die ich lieber mit diesem Wort beantwortet hätte, aber die hatte sie alle nicht gestellt.
»Das freut mich sehr. Und ich erkläre dich hiermit auch feierlich zu meiner Einkaufsbegleitung für das Brautkleid.« Sie versah das letzte Wort mit zwei spöttischen Luftanführungszeichen. »Wenn dich das nicht auf andere Gedanken bringt, weiß ich es auch nicht mehr.«
Ihre Hochzeit brachte mich auf andere Gedanken, auf dunkle, schreckliche, hoffnungslose Gedanken, aber das durfte sie nicht wissen. Ich roch den kühlen Nachtwind, der vom Kraftwerk einen metallischen Duft mitbrachte. Ich hörte das Gluckern der Wellen am Ufer. Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Wenn Rilke noch gelebt hätte, hätte ich ihn angerufen.
Bis zum Sonnenaufgang
hatten wir auf der Bank am Rhein gesessen und erst ein Jogger, der im ersten Licht des Morgens misstrauisch an uns vorbeikeuchte, hatte uns endgültig klargemacht, dass die Menschheit wieder die Herrschaft über diesen Teil der Welt übernommen hatte. Wir hatten viel geredet und ich hatte ausgiebig an meinem bunten Gefühlscocktail aus zwei Teilen Schmerz und einem Teil Glück, mit einem körnigen Rand aus Angst und einer überraschend süß-erotischen Cocktailkirsche genippt. Irene hatte einfach glücklich gewirkt, in mir eine Freundin gefunden zu haben, mit der sie mehr als die Vorliebe für ein paar Filme teilen konnte. Und sie hatte besorgt gewirkt, besorgt um mich. Da ihr Artikel in der nächsten Woche exklusiv in einem größeren Magazin erscheinen würde, war sie sicher, dass danach eine neue Serie von
Weitere Kostenlose Bücher