Herz und Fuß
Täter nicht länger in Frage. Er hatte erst vor drei Tagen das Krankenhaus verlassen, wo er wegen einer schweren Lebererkrankung die letzten Wochen verbracht hatte. Ein Beamter, den ich nicht kannte, der sich aber als Leiter der Ermittlungen vorstellte, erklärte der Fernsehgemeinde, dass es sich bei den beiden Strümpfen im Besitz von Jürgen H. aber eindeutig um die bekannte grüne Wolle und das identische Strickmuster handeln würde, das hätten Vergleiche ergeben.
»Sie haben ihn nicht«, sagte Irene hinter mir und ich nickte traurig, ohne mich umzudrehen.
Neben dem Ermittlungsleiter saßen links und rechts auf dem Podium zwei weitere Herren im Anzug, die wortlos und starr in die Kamera blickten. Vor allen dreien standen ungeöffnete Erfrischungsgetränke, deren Etikette jemand werbewirksam in Richtung der vielen Betrachter gedreht hatte. Es klickte und klackerte im Raum. Die mit bunten Senderlogos bedruckten Filzüberzüge unzähliger Mikrofone hielten sich übereinander und untereinander und gegen jedes physikalische Gesetz am Tischrand fest, um zu zeigen, dass es ein internationales Interesse an den neuesten Entwicklungen gab. In der Mitte, hinter dem Ermittlungsleiter, stand der große Beamte, der mich beim ersten Fund verhört hatte, und sein vertrautes Gesicht erinnerte mich daran, dass ich auch hier auf einem fernen Sessel ein Teil dieses absurden Theaters war.
»Jürgen H. hilft uns bei den Ermittlungen und war in der Lage, genau anzugeben, wo er die beiden Strümpfe gefunden hat. Bei dem Fundort handelt es sich um einen Papierkorb in der Nähe des Gemeindezentrums der St. Michael Kirche in Duisburg.«
Ein Bild wurde eingeblendet und zeigte das schmucklose Gemeindezentrum, in dem meine Mutter die Senioren daran hinderte, gebrauchte Heizdecken bei eBay zu ersteigern.
Ich fuhr von meinem Sessel hoch.
»Wir bitten vor allem Menschen, die sich regelmäßig in der Nähe des Fundortes aufhalten, um ihre Mithilfe. Wer hat in der letzten Woche vielleicht zufällig gesehen, wie diese Strümpfe in den Papierkorb geworfen wurden? Wem ist etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Charly?« Irene sprang ebenfalls vom Sofa und Markus erhob sich verwirrt von all den schnellen Bewegungen im Raum.
»Ich muss sofort nach Hause. Das ist das Gemeindezentrum in der Nähe unseres Hauses, in dem meine Mutter ihre Seniorengruppe hat.«
»Ich komme mit dir!« Irene stellte ihren halb gegessenen Krokantbecher neben meinen halb gegessenen Geishabecher.
Mir war das jetzt endgültig alles zu viel. Der Mörder in der Nähe meiner Mutter, Markus in der Nähe von Irene und ich von einem glücklichen Leben meilenweit entfernt »Nein! Das ist nicht nötig. Ich will nur mit meiner Mutter sprechen, dabei kannst du nicht helfen.«
Mein letzter Satz und vor allem mein harscher Tonfall stießen sie zurück aufs Sofa. Markus setzte sich wieder und sah unsicher zwischen uns beiden hin und her.
»Dann melde dich doch einfach, wenn ich mal wieder helfen kann.« Auch Irenes Stimme senkte die Raumtemperatur um ein paar Grad.
Markus begleitete mich zur Tür und schob meinen Gesichtsausdruck sicherlich auf die Neuigkeiten, die wir gerade vernommen hatten. »Pass gut auf dich auf und grüß deine Mutter von mir. Ich bin sicher, dass sie nicht in Gefahr ist.«
Ich sah ihm an, dass er nicht sicher war.
»Wenn er weiß, wo das Gemeindehaus ist, dann weiß er auch, wo wir wohnen, Markus.«
Er erwiderte nichts, sondern drückte mich nur hilflos an sich.
Die Geier waren zurück.
Es hatte nicht lange gedauert bis die Presse begriffen hatte, dass der Fundort der Strümpfe in Fußnähe zu unserem Haus lag, und so durfte ich mich durch einen kleinen Schwarm von Journalisten manövrieren, der vor unserem Gartenzaun aufgeregt in der Sonne summte. Kaum stieg ich aus meinem Wagen, umgab mich der Schwarm, stach mir seine Mikrofonstachel ins Gesicht und brüllte mir in schneller Folge Fragen ins Ohr.
«Kennen Sie den Mörder?«
»Was hat das mit Ihnen zu tun?«
»Fühlen Sie sich bedroht?«
»Glauben Sie, dass es jemand aus ihrem Umfeld ist?«
Sie folgten mir summend und stechend bis zu unserem Gartenzaun, wo ich das von meinem Vater selbst geschmiedete Gartentürchen so krachend hinter mir in sein verrostetes Schloss fallen ließ, dass sie kurz verstummten. Dann ging das Fragengeschrei wieder los. Ich verschloss das Gartentor, stieß die Haustür, die
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