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Herz und Fuß

Herz und Fuß

Titel: Herz und Fuß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Bax
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sagte: »Sie wissen nichts, oder?«
     
    Irene zuckte mit den Schultern und räumte wortlos unsere beiden halb gegessenen Brote in den Abfall. 
     

Die Nacht kam zurück.
     
    Ich hatte mich schon gefragt, ob sie auch einfach wegbleiben konnte, aber dann war die schon leicht herbstliche Dämmerung wie immer in Dunkelheit übergegangen. Mit dem Licht verschwand auch der letzte Rest des Mutes, den ich über Tag gesammelt hatte. Und wieder verloren. Und wieder gefunden. Aber die Dunkelheit macht alles so unheimlich und wenn man in diesen Lichtverhältnissen den Mut einmal verlegte, wurde es noch schwerer, ihn zu finden. Irene saß mir an meinem Küchentisch gegenüber und zwischen uns stand ein Pflaumenkuchen mit Streuseln, den Rose-Lotte Stein am Nachmittag vorbeigebracht hatte. Sie hatte ihn mir mit gesenktem Blick übergeben, wortlos, wie immer. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl gehabt, dass sie etwas sagen wollte, aber dann war ihrem Mund nur ein gequälter Ton, der nicht ganz Seufzen und nicht ganz Quieken war, entfahren. Als Irene sie hatte hereinbitten wollen, war sie eilig hinkend durch den Garten verschwunden. Wahrscheinlich war selbst sie zu einem Suchtrupp eingeteilt. Ob die stumme Frau Stein wusste, dass Pflaumenkuchen der Lieblingskuchen meiner Mutter war? Ich starrte die wenigen, matschigen Pflaumen unter den blassen Streuseln an, als wären sie in der Lage, mir zu verraten, was passiert war. So wie Kaffeesatz oder Teeblätter.
     
    »Soll ich ihn anschneiden?« Irene erhob sich, um nach einem Messer zu schauen.
     
    »Bloß nicht. Das sollten wir uns als allerletzte Möglichkeit aufheben.«
     
    Irene sah mich fragend an.
     
    »Backen ist nicht die Stärke von Rose-Lotte Stein.« Normalerweise hätte ich das sicher lustiger formuliert, aber normalerweise war meine Mutter auch nicht seit mehr als einem Tag spurlos verschwunden.
     
    Oder war das jetzt meine Normalität? Dieses ewige Warten und Bangen? Dieses schmerzhafte Hoffen auf einen neuen, besseren Tag, diese Furcht vor der Nacht? Würde ich lernen müssen, in dieser Realität zu scherzen? Zu essen? Zu leben?
     
    Der desolate Zustand der vereinzelten Pflaumen wirkte plötzlich prophetisch. Irgendwann würde ich nämlich als Einzige warten und für alle anderen würde das Leben weitergehen. Irene würde wieder arbeiten und dann würde sie heiraten. Heiner würde versuchen, das Erbe seiner verschwunden Mutter anzutreten, und ich würde gramgebeugt bei dem Versuch, das Haus mit einem zu großen Brotmesser zu verteidigen, umkommen. Das war meine Zukunft.
     
    »Was ist deine Zukunft?« Irene nahm meine Hand, so wie sie das in diesen Stunden ständig tat.
     
    »Was?«
     
    »Du hast gerade gesagt: Das ist meine Zukunft.«
     
    Hatte ich das? Was hatte ich noch gesagt?
     
    »Du hast sonst nichts gesagt, deshalb frage ich ja.«
     
    Irgendwie war die Grenze zwischen dem, was ich dachte, und dem, was ich sagte, in meinem Kopf unbewacht, denn Gedanken und Worte rannten einfach hin und her und machten was sie wollten.
     
    »Ich habe solche Angst.« Da war es wieder passiert und der Gedanke, der meinen Kopf schon seit Stunden terrorisierte, war als Wort getarnt über die Grenze in die Freiheit gehuscht.
     
    »Ich weiß«, sagte Irene. Sonst sagte sie nichts, sondern setzte sich nur dicht neben mich, hüllte mich in ihre sanfte Nähe und drängte die furchterregende Welt von mir weg.
     
    »Ich weiß nicht, wie lange ich diese Ungewissheit noch aushalte. Ich will wissen, wo meine Mutter ist, und wenn ihr etwas passiert ist, will ich das auch wissen. Vielleicht ist sie gefallen und liegt irgendwo da draußen in der Dunkelheit.« Ich vermutete, dass mein jämmerliches Schluchzen Worte enthalten hatte, denn Irene antwortete mir.
     
    »Charly, alle suchen nach ihr. Wenn sie irgendwo dort draußen ist, wird sie auch gefunden.«
     
    »Lass uns noch einmal den Weg zum Rhein gehen.« Ich war mir plötzlich sicher, dass nur ich ErzEngel finden konnte, und zog Irene an der Hand, die fest in meiner lag, hoch und hinter mir her zur Tür. Sie folgte mir ohne Zögern.
     
    Der schmale Weg war genauso dunkel wie bei unserem ersten gemeinsamen Ausflug, aber diesmal war jedes Knacken Hoffnung. Ich leuchtete mit der Taschenlampe, die ich aus ErzEngels Schublade genommen hatte, in jeden Winkel und rief laut nach meiner Mutter. Nichts. Der Pfad war verlassen, die Bank war leer, der Rhein war schmutziges, kaltes Wasser. Die kleinen, hämischen Wellen, die schmatzend

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