Herz und Fuß
gesagt hatte, hatte ihn mir sympathischer gemacht.
Eine Weile hatten wir noch in der Küche meiner Mutter gesessen, Irene hatte mit Markus telefoniert und ich hatte versucht, den Stickstoffanteil in der Luft zu sehen. Schließlich hatte Irene mich aus dem Küchenstuhl gezogen und nun waren wir schon eine Stunde in meinem Wohnzimmer. Die Tür zum Flur stand weit offen und alle verfügbaren Telefone lagen auf dem Tisch neben dem Sofa. Immer wieder saßen wir dicht nebeneinander, ich unter einer Decke, die viel zu warm für die milde Nacht war, aber die ich nicht weglegen wollte, weil Irene sie mir sehr liebevoll umgelegt hatte. Wenn sie kurz aufstand, um etwas zu trinken zu holen, ging ich mit, denn nur ganz dicht neben ihr fühlte ich mich sicher genug, um dieses Warten zu ertragen. Sie bemerkte das, aber sie kommentierte es nicht. Wenn ich mich erhob, um zur Tür zu gehen oder um die Klingeltöne aller Telefone immer wieder zu überprüfen, nahm ich die Decke mit und Irene begleitete mich, als wäre diese symbiotische Fortbewegungsart das Normalste auf der Welt. Ich konnte nicht lange sitzen und ich konnte nicht lange stehen. Ich ging umher, von Raum zu Raum und von Wohnung zu Wohnung. Einige Minuten lang erzählte ich ihr von meiner Kindheit und dann machten gerade diese Erinnerungen die Situation unerträglich. Ich rief Duislexic noch einmal an und stellte fest, dass er ebenfalls sehr beunruhigt war und auf allen Kanälen, die ihm zur Verfügung standen, nach meiner Mutter gesucht hatte. »In ihren Mails gibt es keine Hinweise darauf, dass sie weg wollte.«
»Also kannst du doch an ihren Laptop?«
»Ich kann an die Mails, die sie auf Netzservern hinterlegt hat. Aber da ist nicht viel. Mach dir keine Sorgen, ErzEngel kann gut auf sich aufpassen.«
»Du machst dir doch auch Sorgen.«
Er zögerte. »Ein bisschen vielleicht, wegen dieser Geschichte …«
Ich legte auf und verstand plötzlich, warum in den Romanen von J.K. Rowling der Name des Bösen nicht ausgesprochen werden durfte. Beim Lesen hatte ich das immer übertrieben gefunden. Jetzt merkte ich, dass das Böse, wenn man es beim Namen nannte, wirklich mehr Macht bekam und größer wurde.
»Meinst du, er hat sie entführt?« Ich sprach demonstrativ aus, was ich am meisten fürchtete. Sofort sah ich den grünen Fuß auf dem Gasometerdach stehen und fühlte wieder die Umklammerung der kalten Wolle an meinem Arm. Ich sah die Rose, so schwarz, so rot, so schön, so tot. Mein Kopf klopfte, als versuchte jemand von außen einen Nagel einzuschlagen.
Irene strich ein auffallend glattes Sofakissen glatter. »Es gibt keine Hinweise darauf. Keinen einzigen. Möchtest du eine Kopfschmerztablette?«
Sie hatte meinen Griff an die dröhnenden Schläfen nicht übersehen. Ich schüttelte den Kopf und hoffte, dass das denjenigen, der die Nägel einschlug, aus dem Rhythmus bringen würde. Ich hoffte grundlos.
»Vielleicht hat sie etwas über ihn herausgefunden? Duislexic sagt zwar, dass sie nichts in dieser Richtung recherchiert haben, aber wer weiß, ob sie das nicht auf eigene Faust getan hat.«
»Und du weißt auch nicht, ob sie nicht einfach irgendwo in der Nähe einen Besuch macht und gar nichts von der ganzen Aufregung weiß.«
»Warum ist ihr Handy dann aus? Warum hat sie mir nichts gesagt? Vielleicht ging es bei dieser Sache die ganze Zeit nicht um mich, sondern um sie. Sie heißt auch Gabriel, weißt du?« Wo immer dieser Gedanke hergekommen war, war es kalt und feucht, denn er zog eine widerliche Spur durch meinen Kopf.
Irene zuckte hilflos mit den Schultern und legte ihre Hand wieder auf meine. Wir hingen beide unseren Gedanken nach.
»Wann musst du morgen aufstehen?« Irene unterbrach das bis zu diesem Zeitpunkt längste Schweigen zwischen uns und schaute auf ihre Uhr. »Heute. Wann musst du heute aufstehen?«
»Ich habe frei.« Gestern Morgen hatte ich mich noch auf den Samstag ohne Gasometer gefreut und jetzt erstreckte sich statt eines freien Tages ein kalter Warteraum der Zeit vor mir. Ein Raum, der keine Türen und viele Ausgänge, der keine Fenster und zu helles Licht hatte. Und in dem es das Wort »frei« nicht gab. Ich überlegte, was eigentlich die letzten Worte gewesen waren, die ich mit meiner Mutter gesprochen hatte, und mir fiel ein, dass sie mir am Abend vor ihrem Verschwinden mit ihrer Zahnbürste im Mund im Flur begegnet war. Und dass wir uns darüber unterhalten hatten, dass wir
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