Herz und Fuß
es beide nicht leiden konnten, uns die Zahnpasta mit warmem Wasser auszuspülen. Das war es. Unser letztes Gespräch war über unsere Gemeinsamkeiten in der Mundhygiene gewesen.
»Hast du eine Zahnbürste für mich?« Irene stand auf, um ins Badezimmer zu gehen. Warum musste sie ausgerechnet in diesem Moment über Zahnbürsten sprechen? Würde sie auch gleich verschwinden? War das die Art, wie das Schicksal einem mitteilte, dass man geliebte Menschen nicht wiedersehen würde? Hatte ich »geliebte Menschen« gedacht? Ich begann wieder zu weinen und erst ganz langsam wurde mir klar, was ihre Frage bedeutete. Sie würde nicht verschwinden, sondern diese Nacht mit mir verbringen. Ich suchte nach den Gefühlen, die zu dieser Erkenntnis gehörten, aber meine Kerkerzelle blieb karg. Irene setzte sich wieder und zog mich in ihre Arme. Ich sah ihre Arme, die meinen Körper berührten, aber ich fühlte meinen Körper nicht. Ich saß gefangen tief drinnen, wo die Nervenbahnen nicht hinreichten, verzweifelt und dicht zusammengerollt wie ein Tier im Winterschlaf.
»Ich schlafe auf der Couch.« Irene unterzog mein Sofa eine halbe Stunde später einer kurzen Prüfung, und wenn ich ihren Blick richtig deutete, meldete sie sich innerlich schon einmal zur Physiotherapie an. »Hast du noch eine Decke?«
Ich kam aus dem Bad, wo ich mir mit geschlossenen Augen die Zähne geputzt hatte, und zog das Boston RedSox Baseballshirt, das ich nachts trug, etwas weiter über die Oberschenkel, als es eigentlich reichte.
»Auf meinem Bett sind zwei.« Ich schlüpfte unter die linke Decke und als sie die andere Decke abräumte, sah der Platz in dem großen Doppelbett mit einem Mal so leer aus. So leer, wie das Haus ohne meine Mutter wirkte. Ich schlug mir die Hände vor das Gesicht, um die Leere nicht zu sehen. Es raschelte neben mir und die Decke senkte sich zurück auf ihren Platz.
»Rückst du ein Stück rüber?« Irene trug ein weißes T-Shirt und sie legte sich ohne jede weitere Frage zu mir ins Bett. Ich wusste, dass ich kein Auge schließen würde, und versuchte, ganz ruhig zu atmen, um die schöne Frau neben mir nicht zu stören.
»Du musst nicht tapfer sein«, sagte diese Frau und zog mich in der Dunkelheit eng an sich. Sie war warm an meinem Rücken und sie legte sich wie ein schützendes Pflaster über meine wunde Außenhaut. Ich ließ meine Tränen ins Kopfkissen laufen und dachte an ErzEngel, die irgendwo da draußen in der kühlen Nacht war. Und dann schlief ich ein.
Die Sonne ließ sich gerade vom Mond erzählen,
was in der Nacht alles passiert war, bevor sie sich endgültig daran machte, ihren Platz einzunehmen. Irgendwo draußen in der fahlen Dämmerung zirpte ein Vogel warnend. War es das, was mich geweckt hatte? In meinem Kopf herrschte ein angenehmer Zustand, der etwa auf halber Strecke zwischen Wachheit und Schlaf lag. Ich streckte mich wohlig und stieß an Irenes warmen Arm, der sorglos neben meinem Körper lag. Und nicht nur ihr Arm lag wenige Zentimeter von mir entfernt. Ihr Gesicht sah im Schlaf fremd und schön aus, der Mund leicht geöffnet und vollkommen entspannt. Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis mein Verstand begriff, warum der schöne Mund so einladend neben mir lag. ErzEngel war nicht mehr da. Ich warf die Decke von mir, stürzte aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinab. Meine Mutter war bestimmt in der Nacht nach Hause gekommen und ich hatte es nicht gehört. Wie dumm von mir, so tief zu schlafen. Jetzt musste ich sie wecken, um ihr zu erzählen, was ich mir für Sorgen um sie gemacht hatte. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand weit offen, so wie alle anderen Türen auch. Ihr Bett war unberührt, die Wohnung war leer und in der Küche wartete die Spülmaschine immer noch darauf, dass sie ausgeräumt wurde. Ich kniete mich neben das saubere Geschirr, das ordentlich in die beiden Körbe gestapelt war, und stöhnte. Dass ErzEngel mit dem ersten Licht des Tages nicht einfach wieder da war, ließ mich eine Verzweiflung spüren, die ich so nicht kannte. Ihr Verschwinden war kein Alptraum gewesen, ihre Abwesenheit war Realität. Irene rief meinen Namen und ich hörte ihre schnellen Schritte auf der Treppe. Sie war bei mir, bevor ich mich erheben und ihr meinen jämmerlichen Anblick neben den klargespülten Tellern ersparen konnte.
»Sie ist nicht nach Hause gekommen.« Ich schrie das Offensichtliche in den heller werdenden Tag. Die aufgehende Sonne suchte in den
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