Herzbesetzer (German Edition)
und mich mit seiner Schlafwärme einhüllt. Also versetze ich meinem Wecker einen Fausthieb, der ihn angstvoll verstummen lässt, lege vorsichtig beide Arme um das weiche, zottelige Geschöpfchen neben mir, vergrabe meine Nase in dem, was es vermutlich als Haare bezeichnen würde, und schlafe augenblicklich wieder ein.
Als ich das nächste Mal erwache, sehe ich direkt in Anokis geöffnete Augen, die irgendwas zwischen Belustigung und Skepsis spiegeln. Er hat sich nicht aus meiner Umarmung befreit, nur seinen Kopf ein bisschen weggezogen, um mich ansehen zu können. Ich erröte, räuspere mich und rücke unauffällig weit genug von ihm ab, um ihm den fortgesetzten Kontakt mit meinen aufständischen Körperbereichen zu ersparen. Sein träges Grinsen zeigt mir, dass ich mir die Mühe hätte sparen können.
»Ich glaub, du bist krank«, sagt er und simuliert Besorgnis.
»Was? Wieso?«, frage ich nervös. Hab ich violette Flecken im Gesicht? Sind mir über Nacht die Haare ausgefallen?
»Na ja …«, meint Anoki gedehnt, »du hast im Schlaf gestöhnt … und dann diese Beule!«
Ich packe mein Kissen und schlage es ihm auf den Kopf, er kichert. »Werd du mal so alt wie ich«, ärgere ich ihn, »dann kennst du dich besser mit so was aus.«
Er dreht sich auf den Bauch, legt den Kopf auf die verschränkten Arme, wendet mir das Gesicht zu und lächelt mich schweigend an.
Als Erstes erledige ich die Telefonate: meine Chefin und Anokis Schule. Dann flüchte ich unter die Dusche und senke die Wassertemperatur bis kurz vor Herzstillstand. Danach fühle ich mich wie jemand, der einer tödlichen Gefahr entronnen ist. Als ich zurückkomme, sitzt Anoki vor meinem Vorratsschrank (der Kühlschrank ist ja bereits leer) auf dem Boden und stopft sich Cornflakes direkt aus der Packung in den Mund. Mit beiden Händen.
»Mann, lass den Scheiß!«, sage ich. »Komm, wir gehen was einkaufen.«
Er greift noch mal tief in die Schachtel, ehe er sich erhebt. »Einkaufen?«, nuschelt er kauend und wischt sich die Hände am Hosenboden ab. »Können wir nicht frühstücken gehen? Ist doch viel gemütlicher!« Und dabei lächelt er verheißungsvoll, als sei das gemeinsame Frühstück der Auftakt zu weiteren Aktivitäten mit hohem Lustfaktor.
Ich kenne seine Tricks inzwischen alle und falle nicht mehr darauf rein (jedenfalls nehme ich das an). »Zu teuer«, erwidere ich knapp und wende mich ab, um seine Augen nicht sehen zu müssen.
Ich beobachte Anoki beim Essen und gebe mir wirklich Mühe, nicht darüber nachzudenken, ob er in anderen, ähm, Lebensbereichen genauso unersättlich, gierig und ausdauernd ist. Stattdessen müssen wir darüber reden, wie es jetzt weitergehen soll. Nach dem Frühstück werde ich noch mal versuchen, meinen Vater anzurufen, entweder zu Hause oder bei meiner Tante. Womöglich ist er sogar auf der Arbeit, das würde mich nicht wundern. Er ist sehr pflichtbewusst. Aber wenn er wirklich so betrunken war, wie Anoki sagt, dürfte er heute nicht zum Arbeiten fähig sein.
»Schade, dass du nicht mitgekriegt hast, was vorher war«, sage ich nachdenklich. »Sie müssen sich ja wohl gestritten haben, sonst wäre er nicht zu Tante Anette gegangen, oder?«
Anoki nickt nur und knabbert an einem Croissant.
Ich gucke weg. »Wer waren denn die Leute, die meiner Mutter geholfen haben? Kanntest du die?«
Anoki stützt den Kopf in die Hand und dreht nachdenklich die Augen zur Decke. »Ich weiß nicht … die Frau hab ich schon mal gesehen, glaub ich … aber ich weiß echt nicht wo. Oder vielleicht verwechsel ich die auch.«
»Was machen wir mit dem Jugendamt?«, frage ich als Nächstes. »Müssen wir da nicht anrufen? Ich glaub nicht, dass diese Frau Paschmann es lustig findet, wenn sie das nächste Mal kommt, und Mama ist nicht mehr da. Bestimmt wollen sie über so was informiert werden.«
Anokis Blick flattert nervös durch die Küche. Ich weiß, wovor er sich fürchtet, und ganz ehrlich: mir geht es genauso. Aber wir können nicht so tun, als sei alles in Ordnung. Meine Mutter ist weg, es gibt wenig Hoffnung, dass sie in naher Zukunft wiederkommt, und Anoki ist jetzt nicht mehr in einer Pflege-, sondern in einer kaputten Familie untergebracht. Das dürfte einen gewissen Unterschied machen. Hoffentlich bringen sie ihn nicht wieder ins Heim. Also, falls sie das vorhaben, mach ich eine Sitzblockade. Oder ich binde mir Dynamitstangen um den Bauch und drohe, mich im Jugendamt in die Luft zu sprengen. Und Anoki fallen bestimmt
Weitere Kostenlose Bücher