Herzbesetzer (German Edition)
jetzt bin ich an einem Punkt angelangt, wo mein Verlangen nach Betäubung ein Ausmaß erreicht, das ich nicht mehr ignorieren kann, und ich erhöhe die Dosis wieder leicht. Ich spüre die Wirkung sofort: eine wohltuende Gleichgültigkeit gegenüber all diesen würgenden Verstrickungen, in denen ich mich da verfangen habe. Mein dauerhaft unterdrücktes Verlangen nach Anoki, meine schwankende Zuneigung zu Judith, die Unmöglichkeit, beide in mein Leben zu integrieren, mein schlechtes Gewissen, wenn ich mit Judith schlafe und dabei an Dreadlocks denke, meine wachsende Abhängigkeit von ihrem Apfelkuchen, mein Selbstekel, wenn ich über all das nachdenke – das kann ich mit meinen Zauberkapseln ausblenden. Es ist noch da, aber es geht mir nicht mehr so nahe. Dafür zahle ich gerne den Preis in Form permanenter Trägheit, großen Schlafbedürfnisses und mangelnder Belastbarkeit. Wen kümmert’s?
Ausgerechnet jetzt bekomme ich eine SMS von Janine: »Alles ok bei dir? Bin morgen Abend im Kaffee Burger, kommst du auch?« Die hat ja echt Nerven. Das ist der Laden, wo wir uns kennengelernt und öfter getroffen haben, ehe wir dann zu ihr oder zu mir gingen. Die dahinterstehende Aufforderung ist unmissverständlich. Zuerst bin ich angewidert, dann geschmeichelt, dann scharf auf sie. Das Ganze ist unaufhaltsam, und ich weiß es und verabscheue mich dafür. Wir treffen uns, landen in Rekordzeit im Bett, und zu meiner heimlichen Erleichterung ist es genauso wenig over the top wie mit Judith. Es ist eben alles nicht das Wahre, tja.
Als ich von Janine nach Hause fahre, ist es schon ziemlich spät. Ich werde wieder nicht genügend Schlaf kriegen, und es hat sich nicht mal gelohnt. Aber dafür weiß ich jetzt, dass ich ihr nicht nachtrauern muss und dass ich mit nichts zufrieden bin und dass ich ewig hinter etwas herjagen werde, das ich nicht kriegen kann. Mit anderen Worten: Ich bin übermüdet, deprimiert, frustriert und ohne Hoffnung. Die einzige Parklücke, die ich finde, ist rund drei Tagesmärsche von meiner Wohnung entfernt, was meine Laune zusätzlich nach unten drückt. Aber als ich um die letzte Ecke biege, sehe ich auf den Stufen vor meiner Haustür eine schmale Gestalt sitzen, die mir merkwürdig vertraut vorkommt. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich gehe schneller, dann fange ich an zu rennen. Dort sitzt der einzige Mensch, der mich wirklich interessiert.
66
Anoki steht ganz langsam auf und kommt ein paar Schritte auf mich zu, so merkwürdig schleppend, dass ich zu zweifeln beginne, ob das wirklich mein quietschlebendiger, spritziger, vor Energie strotzender Minibruder ist oder irgendein alter Mann, der ihm zufällig ähnlich sieht. Ich erhöhe abermals die Geschwindigkeit und drücke ihn atemlos an meine Brust.
»Was ist passiert«, keuche ich.
Anoki schweigt und legt die Wange an meine Jacke, mit geschlossenen Augen, als sei er namenlosen Schrecken entkommen. Ich hab Sorge, dass mein Herz gleich wegen Überlastung die Arbeit einstellt, so heftig knallt es mir gegen die Rippen. Es vergehen lange, qualvolle Sekunden, ehe er sagt: »Petra ist abgehauen.«
Beim Schein meiner Wohnzimmerlampe erkenne ich, dass Anoki total bekifft ist. Seine Augen sehen aus wie hinter Gardinen, und seine langsamen, für ihn völlig untypischen Bewegungen erinnern mich an einen Taucher. Ich habe tausend Fragen an ihn, doch es dauert furchtbar lange, bis die bei ihm ankommen, und noch viel länger, bis er mir eine verständliche Antwort darauf geben kann. Zuerst will ich wissen, wie er hierhergekommen ist.
Er guckt mich an, ohne mich zu sehen, hält den Kopf schräg, lauscht irgendwelchen Geräuschen jenseits meiner Wahrnehmung und grinst versonnen, ehe er sagt: »Zug, U-Bahn.«
»Und was genau ist passiert? Woher willst du wissen, dass meine Mutter abgehauen ist? Hat sie das gesagt? Oder macht sie nur einfach wieder eine Kurzreise?«, bombardiere ich Anoki mit Fragen. Klar, dass er überfordert ist, wo sein Gehirn doch ungefähr so flink arbeitet wie ein Beamter auf der Meldebehörde. Er lächelt unsicher, schaut sich suchend im Zimmer um und schiebt sich dann gemächlich in Richtung Kühlschrank, um dessen Inhalt bei geöffneter Tür systematisch in seinen Verdauungsapparat zu überführen. Ich eile ihm hinterher und bestürme ihn erneut, bis er endlich zu reden beginnt – mit vollem Mund und wenig Zusammenhang, aber es genügt, dass ich mir meinen Reim darauf machen kann.
Wenn ich Anokis Schmatzgeräusche richtig
Weitere Kostenlose Bücher