Herzbesetzer (German Edition)
Gleichgewicht und kippe hintenüber wie ein Mistkäfer. Unter Einsatz all meiner Bauchmuskeln richte ich mich auf, schnappe mir seine Handgelenke, was ihn überrascht, und ziehe ihn ebenfalls auf den Boden, wo wir eine Zeit lang verbissen um die bessere Position kämpfen. Ich bin sehr erleichtert, dass ich gewinne (er ist wirklich kein Schwächling, verflixt noch mal!) und ihn mit meinem Gewicht aufs Laminat pressen kann.
»Mach das nicht noch mal«, zische ich drohend. Das ist nur eine Frage der Autorität; ich kann ihm ja nicht alles durchgehen lassen, oder?
»Wieso, du stehst doch auf so was«, entgegnet Anoki gepresst, weil ich auf seinem Bauch sitze, aber unbeeindruckt.
Ich glaub, er braucht wirklich mal eine Portion Erziehung. »Okay«, sage ich, »du willst kuscheln? Sag das doch gleich.« Und ich beuge mich langsam über ihn, wie um ihn zu küssen. Da kriegt er ganz weite Pupillen, und in allerletzter Sekunde schreit er panisch: »Hey! Hör auf! Lass das!«
Ich lache zufrieden. Na ja, äußerlich zufrieden. In Wirklichkeit bin ich ganz schön enttäuscht.
68
Wir können uns nicht über das weitere Vorgehen einigen. Mein Vorschlag ist, nach Neuruppin zu fahren, weil ich mir große Sorgen um meinen Vater mache und ihm zur Seite stehen will. Anoki dagegen hat einen regelrechten Horror beim Gedanken, wieder in das Haus zurückzumüssen, in dem er gestern Nachmittag dieses traumatische Erlebnis hatte, und weigert sich.
»Fahr du hin, ich bleib hier«, schlägt er vor.
»Das ist doch Blödsinn!«, protestiere ich. »Du musst doch sowieso zurück! Du hast doch Schule!«
Anoki schaltet auf stur. »Ich bleib auf jeden Fall übers Wochenende hier. Ich geh da jetzt auf gar keinen Fall zurück. Du kannst mich nicht zwingen.«
Jetzt erwacht auch mein Dickkopf. »Ach ja? Aber du kannst mich zwingen, dich bis Sonntag bei mir zu beherbergen oder was?« Eigentlich meine ich das gar nicht so, aber mich ärgert diese Selbstverständlichkeit, mit der er über mich verfügt.
»Wenn du mich hier nicht haben willst, geh ich woanders hin«, erklärt Anoki ungerührt, »mir doch egal.«
Ich fürchte, er würde das tatsächlich tun – und ich würde vor Sorge durchdrehen. »Das ist ja Erpressung!«, schnaube ich zornig. »Wo willst du denn hin? Am Bahnhof Zoo auf ’ner Bank pennen oder was?«
Anoki sieht mich verständnislos an: »Ja und? Warum denn nicht?«
Ich zwinge mich zur Ruhe und atme tief durch. »Das geht natürlich nicht«, sage ich dann mit etwas reduzierter Lautstärke. »Das wäre viel zu gefährlich. Außerdem lass ich dich nicht einfach alleine, das weißt du ganz genau. Aber ich muss mich doch auch um meinen Vater kümmern!«
Noch immer scheint Anoki den Ernst der Lage nicht begriffen zu haben. »Ich kann doch hier auf dich warten«, findet er. »Oder ruf den doch erst noch mal an. Vielleicht will der gar nicht, dass du kommst.«
Obwohl ich nicht glaube, dass er mit dieser Theorie richtig liegt, beschließe ich, seinen Vorschlag aufzugreifen. Am frühen Nachmittag wähle ich also erneut die Nummer meines Elternhauses, und diesmal wird der Hörer nach dem fünften Klingeln abgehoben. Aber nicht von meinem Vater, sondern von Tante Anette.
»Julian!«, ruft sie erfreut. »Das ist ja lieb, dass du anrufst. Deinem Vater geht es leider nicht sehr gut. Aber mach dir mal keine Sorgen, ich bleib jetzt erst mal hier und kümmere mich um alles.« Tante Anette war immer schon meine Lieblingstante. Trotzdem bin ich noch nicht beruhigt.
»Was meinst du denn, es geht ihm nicht gut?«, frage ich besorgt.
»Ach, na, kannst du dir doch denken. Gestern hat er einen über den Durst getrunken, und jetzt hat er einen Kater und kommt außerdem nicht damit zurecht, dass deine Mutter … dass sie weg ist. Er sitzt im Wohnzimmer in seinem Sessel und brütet vor sich hin, und ab und zu fängt er an zu erzählen, dass er das nicht geahnt hat und so.« Tante Anette deutet mein kurzes Schweigen vollkommen richtig: »Julian, mach dir keinen Kopf. Wenn du dich um Anoki kümmerst, ist das schon mal eine große Hilfe. Wann bringst du ihn denn zurück?«
Ich werfe einen raschen Blick zu meinem erpresserischen, ungebetenen Gast hinüber, der an meinem Laptop sitzt und so tut, als mache er ein Ballerspiel, obwohl er ganz genau zuhört.
»Sonntag«, sage ich. »Hoffe ich jedenfalls«, füge ich noch hinzu, denn wer weiß, welche neuen Druckmittel er sich bis dahin ausdenkt. Ich bitte Tante Anette, meinen Vater zu fragen, ob
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