Herzbesetzer (German Edition)
auch noch ein paar Widerstandstechniken ein, er ist schließlich mit so was aufgewachsen. Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich ihn nicht hängenlasse und zu allem bereit bin, um ihn vor der Abschiebung zu retten, und bade in seinem dankbaren Blick wie in einer karibischen Lagune.
Nachdem Anoki seinen gröbsten Hunger gestillt hat, das heißt, nachdem er Nahrungsmittel in einer Menge zu sich genommen hat, die ich noch nicht mal hochheben könnte, hänge ich mich wieder ans Telefon. Meinen Vater erreiche ich zu Hause. Ich glaube, er ist immer noch nicht nüchtern, jedenfalls klingt er merkwürdig, aber ich weiß natürlich nicht, wie man normalerweise klingen müsste, wenn einem nach sechsundzwanzig Ehejahren die Frau weggelaufen ist. Dass Anoki bei mir ist, nimmt er am Rande zur Kenntnis – offenbar ist ihm sein Fehlen noch gar nicht aufgefallen. Ansonsten sagt er nur immer wieder: »Da hat keiner mit gerechnet. Das konnte keiner ahnen.« Ich lasse auch Anoki mit ihm reden, aber der bekommt nichts anderes zu hören. Wir sind beide ziemlich geschafft, als das Telefonat vorüber ist, und sitzen schweigend nebeneinander auf der Couch, den Blick ins Leere gerichtet. Dann legt Anoki hilfesuchend den Kopf an meine Schulter, und ich drücke ihn wortlos an mich, bis wir wieder einigermaßen klar denken können.
Anokis Betreuerin vom Jugendamt erreiche ich in ihrem Büro. Ich versuche, mich souverän und gelassen anzuhören, damit sie gleich weiß, dass wir alles im Griff haben und Anoki zu keinem Zeitpunkt gefährdet war. Ich hab sie schon ein paar Mal getroffen, denn sie kommt regelmäßig zu uns nach Hause und schaut, wie alles so läuft; außerdem musste sie aufgrund von Anokis diversen Missetaten öfter mal außer der Reihe antanzen. Dass meine Mutter einfach so abgerauscht ist, schockt sie beträchtlich. Natürlich will sie sofort wissen, ob mein Vater denn in der Lage sei, sich »vorübergehend« allein um Anoki zu kümmern, und ich bejahe das und füge hinzu, dass ich ja auch noch da sei und jederzeit zur Verfügung stehe, er sei auch gerade bei mir und alles sei in bester Ordnung. Ich glaube, sie findet mich vertrauenswürdig, jedenfalls scheint sie erleichtert zu sein, dass sie nicht eingreifen muss. Sie bietet mir an, mich jederzeit bei ihr zu melden, wenn Not am Mann sei, und gibt mir ihre Handynummer, und somit habe ich Anoki einstweilen auch vor den Fängen der Behörde gerettet. Ich mag diesen bewundernden, dankerfüllten Blick, mit dem er mich anschaut. Falls er mich jemals fragen sollte: »Wie kann ich das nur alles wiedergutmachen?«, habe ich eine sehr anschauliche Antwort parat.
Als Letztes rufe ich im Krankenhaus an, wo meine Mutter arbeitet. Das ist das unangenehmste Gespräch. Ich finde es peinlich, mit wildfremden Menschen das absurde Verhalten meiner Mutter zu besprechen. Wenigstens ist es ein bisschen hilfreich, denn ihre Kollegin Monika erzählt mir, dass meine Mutter bereits vor zwei Monaten ihre Stelle gekündigt hat, und zwar zum ersten Juni. Bis dahin hat sie noch einige Tage Resturlaub. Sie hat aber niemanden darüber informiert, dass sie komplett die Biege machen wollte – alle Fragen nach dem Grund für ihre Kündigung hat sie damit beantwortet, dass sie »mehr Zeit für Anoki« brauche. Ich kriege eine solche Wut auf sie, dass ich am liebsten irgendwas kaputtmachen würde, und renne nach dem Telefongespräch sofort ins Bad, um zwei Tabletten zu schlucken.
Anoki schleicht mir hinterher und erschreckt mich, als ich ihn plötzlich sagen höre: »Du wolltest die doch nicht mehr nehmen.«
Natürlich wirken sie noch nicht, deshalb brülle ich ihn an: »Verpiss dich! Was dackelst du mir denn hinterher? Kann ich nicht mal in Ruhe aufs Klo gehen?« Mit anderen Worten: eine totale Überreaktion, für die ich mich im selben Augenblick schäme, aber noch ehe ich mich entschuldigen kann, hat sich Anoki umgedreht und ist zurück ins Wohnzimmer gegangen.
Ich würge hastig die zweite Tablette runter und renne ihm nach. Er sitzt mit hängendem Kopf auf der Couch.
»Scheiße, war nicht so gemeint«, sage ich und hocke mich vor ihn. Er will mich nicht ansehen, aber ich umfasse sanft sein Kinn und zwinge ihn dazu. »Tut mir leid. Ich bin auch ganz schön fertig. Das geht mir alles so an die Nieren.«
Zwei, drei Sekunden lang guckt Anoki mich mit feucht schimmernden Augen tieftraurig an, dann versetzt er mir mit einem unerwarteten teuflischen Grinsen einen Stoß gegen die Schulter, und ich verliere das
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