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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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interpretiere, hat meine Mutter diesmal nicht nur einfach einen Koffer gepackt, sondern ist mit ihrem gesamten Hab und Gut ausgezogen. Und das ohne jede Vorwarnung. Er kam von der Theaterprobe nach Hause, und sie lud gerade Umzugskartons in einen Transporter. Eine Frau und ein Mann haben ihr dabei geholfen. Mein Vater war nicht da, und nach knapp einer Stunde war Anoki allein im halbleeren Haus.
    »Was hat sie denn gesagt, wohin sie fährt?«, frage ich. Das ist doch nicht meine Mutter! Die räumt doch nicht einfach ihre Klamotten in Kartons und türmt!
    »Nur dass sie geht«, erklärt Anoki achselzuckend. »Hat ’n bisschen geheult und so.« Stockend und mit langen Unterbrechungen berichtet er dann, dass er meinen Vater suchen gegangen sei. Ziemlich komplizierte Angelegenheit, denn Papa hat kein Handy und ist im Übrigen ein total häuslicher Mensch, das heißt: man kann sich nur mit Mühe vorstellen, dass er sich längere Zeit irgendwo anders aufhält als an seinem Arbeitsplatz, in seinem Haus oder in seinem Garten. Dennoch hat Anoki diese Aufgabe gemeistert. Er hat ihn bei meiner Tante aufgetrieben, also bei Papas Schwester. Leider befand er sich in einem Zustand fortgeschrittener alkoholischer Zersetzung, was Anoki zutiefst schockiert haben muss, genau wie mich jetzt, als er mir das erzählt. Ich glaube nicht, dass ich meinen Vater jemals betrunken erlebt habe, allerhöchstens mal ein bisschen angeheitert.
    Nach diesem zweiten Tiefschlag ist Anoki ohne weitere Umwege zum Bahnhof gegangen und nach Berlin gefahren. In seiner Situation war das wohl das einzig Vernünftige, denn wenigstens kann ich ihm ein bisschen von dem geben, was er jetzt am dringendsten braucht: Halt, Wärme, Zuversicht, Trost und so weiter. Auch wenn ich vor Müdigkeit fast zusammenbreche und der Bericht über das Verhalten meiner Eltern mich total verunsichert hat: Ich bin der Ältere, ich muss damit umgehen können, und Anoki braucht mich in diesem Moment mehr als je zuvor in seinem Leben.
    »Hast du schon lange auf mich gewartet?«, frage ich mit schlechtem Gewissen.
    »Ziemlich«, sagt Anoki vorwurfsvoll, »wo warst du denn so lange?«
    Ich winde mich wie unter der Berührung eines Elektroschockers. »Och, ich … pf … bei, bei einer … Bekannten.«
    »Bei Judith?«, fragt Anoki scharf.
    Ich weiche seinem Blick aus und zerre die Unterbettkommode hervor, um das Bettzeug rauszuholen. »Kannst du mir mal helfen?«, ächze ich übertrieben.
    Es ist Mittwoch, ich werde ihn wieder in der Schule entschuldigen müssen. Hoffentlich gibt das keine Probleme. Ob es sich in Neuruppin schon rumgesprochen hat, dass meine Mutter verschwunden ist? Und wie geht es wohl meinem Vater? Ich mache mir Sorgen um ihn, aber es ist zu spät, um noch bei meiner Tante anzurufen. Ich versuche es zu Hause und lasse es zwanzigmal klingeln. Es meldet sich niemand. Hätte mich auch gewundert. Aber was passiert, wenn er in das leere Haus zurückkehrt? Wie verkraftet er das? Und kann er Anoki alleine versorgen, oder wird er ihn ohne Umschweife zurück ins Heim bringen? Was wird das Jugendamt dazu sagen, dass meine Mutter weg ist? Ob sie darauf bestehen, dass Anoki dort wegkommt? Wenn ich an die Lawine von Problemen denke, die auf mich zurollt, kann ich überhaupt nicht mehr verstehen, dass ich heute Abend deprimiert war. Daneben sehen meine jämmerlichen kleinen Beziehungsprobleme und meine chronische selbst verschuldete Unzufriedenheit aus wie Mückenstiche neben einer Schusswunde.
    Anoki ist so breit ich wundere mich, dass er überhaupt den Weg zu mir gefunden hat. In diesem Zustand würde ich nicht mal mein Klo finden. Aber er schafft es noch, sich aus seinen Klamotten zu schälen (ich halte die Luft an und gucke angestrengt weg, was mir nicht ganz gelingt), und dann kriecht er in der Unterwäsche (schwarzes Ringerhemdchen und rote Boxershorts mit Tattoo-Aufdruck) ins Bett. Na gut, das Zähneputzen können wir angesichts der besonderen Umstände heute mal auslassen. Ein paar Minuten später entere ich meine Matratzenhälfte. Kaum habe ich das Licht gelöscht, rutscht er zu mir rüber und kuschelt sich unverblümt an meinen Rücken.
    »Sorry«, flüstert er, »hab meinen Panther nicht mit.«

 
 
67
    Ich mache etwas, das ich noch nie gemacht habe: blau. Und das fast ohne schlechtes Gewissen. Denn schließlich kann niemand von mir verlangen, dass ich ein Bett verlasse, in dem sich das liebenswerteste, bezauberndste Wesen des Universums vertrauensvoll an mich schmiegt

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