Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
Vom Netzwerk:
durchzusetzen.

 
 
69
    Vorher ist allerdings noch ein Nickerchen erforderlich. Die letzte Nacht war kurz, und diese belastenden Telefongespräche haben mich völlig erschöpft. Dabei quäkt Anoki schon seit heute Morgen herum, dass er sich dringend was zum Anziehen besorgen muss, insbesondere Unterwäsche, denn schließlich könne er nicht bis Sonntag mit denselben Sachen rumlaufen. Eine Forderung, die ich fast uneingeschränkt unterstütze, außer dass er meinetwegen innerhalb meiner Wohnung auch gänzlich auf Kleidung verzichten könnte – aber beim Gedanken, jetzt mit ihm durch irgendein Einkaufszentrum zu hetzen und der geballten Wucht seiner unerfüllten Bedürfnisse schutzlos ausgeliefert zu sein, fallen mir praktisch von ganz alleine die Augen zu. Anoki guckt mich mit perfekt gespielter Besorgnis an.
    »Oooch, du bist ja schon wieder so müde, du Armer«, säuselt er. »Leg dich doch ’n bisschen hin. Ich flitz schnell los und kauf mir das Nötigste, und wenn du wach wirst, bin ich schon wieder zurück. Mit ’nem nagelneuen, frischen Schlüpfer«, fügt er natürlich noch hinzu, begleitet von einem Lächeln, das hart an der Grenze zur Körperverletzung rangiert.
    »Aber ich würde dir doch gerne beim Anprobieren helfen«, murmele ich mit vor Müdigkeit schwerer Zunge.
    Anokis Gesichtsausdruck wird nachsichtig. »Weißt du, Juli, im Allgemeinen probiert man Unterwäsche nicht an. Die kauft man eingeschweißt im Fünferpack. Du würdest echt nichts verpassen.«
    Na gut, ich bin überzeugt, oder sagen wir mal so: Ich sacke auf der Couch zusammen und höre nicht mal mehr, wie sich die Tür hinter meinem konsumgeilen Bruder und meinem letzten Hundert-Euro-Schein schließt.  
    Ich schlafe fast zwei Stunden, und natürlich ist Anoki nicht zurück, als ich wach werde. Das hätte mich auch gewundert. Ich lasse mir Zeit mit dem Aufstehen, dann mache ich mir einen Kaffee und zücke mein Handy.
    »Was, du bist schon wach?«, ruft Anoki entsetzt. »Also, ’n bisschen brauch ich noch! ’ne Stunde, okay? Hältst du das aus?«
    »Wahrscheinlich nicht«, erwidere ich, »aber hab ich eine Wahl?«
    »Nee«, sagt Anoki ehrlich. »Aber ich bring dir was Schönes mit.«
    Ich trinke einen zweiten Kaffee, checke meine E-Mails, surfe ein bisschen im Netz nach Urlaubsangeboten, rufe noch mal zu Hause an (alles unverändert) und fange an, die Küche aufzuräumen.
    Dann kommt Anoki zurück, bepackt mit bunt bedruckten Tüten in jeder Form und Größe. Bei diesem Anblick schreibe ich meine hundert Euro resigniert ab, setze jedoch ein strahlendes Lächeln auf und sage: »Sieht aus, als wärst du erfolgreich gewesen.«
    Eifrig beginnt Anoki, jede einzelne Plastiktüte auszupacken und mir die Inhalte zu präsentieren: ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck »Heimkind«, eine wadenlange hellgraue Skaterhose mit aufgesetzten Taschen, vier Paar geringelte Socken, Pulswärmer mit Totenköpfen, ein Zehnerpack schwarze und weiße Boxershorts, ein weißes Achselhemdchen, ein ledernes Stachelhalsband, ein knallorangefarbenes Langarmshirt, drei Buttons mit verschiedenen respektlosen Sprüchen, ein dunkelrotes Hemd mit kurzen Ärmeln, einen Silberring mit eingraviertem Tattoo-Ornament, eine graue Kapuzensweatjacke mit einer großen Drei auf dem Rücken, ein Paar rote Basketballstiefel und eine schwarz-weiß karierte Sonnenbrille. Wenn ich die geschätzten Preise im Kopf addiere, muss über die Hälfte davon geklaut sein.
    Zum Schluss zieht Anoki etwas aus einer besonders durchgestylten Tüte und überreicht es mir mit erwartungsvollem Lächeln. Ich halte einen Dreierpack mit superedlen schwarzen Retroshorts von Hom in meiner Hand, der allein schon gut fünfzig Euro wert ist. Genau meine Größe, genau der Stil, den ich am liebsten mag, und genau die Marke, die ich mir noch nie gegönnt habe. Ich bin sprachlos: vor Rührung, vor Freude und weil ich nicht genau weiß, was man sagt, wenn man von seinem kleinen Bruder, auf den man heimlich total scharf ist, Unterhosen geschenkt bekommt. Aber Anoki wird zunehmend ungeduldiger, also umarme ich ihn, ohne das Geschenk aus der Hand zu legen, und sage: »Danke. Absoluter Volltreffer.«
    Natürlich kann ich ihn jetzt nicht mehr fragen, ob er alles, was er sich gekauft hat, tatsächlich unbedingt für die drei Tage braucht, die er noch bei mir sein wird. Oder ob er ein bisschen Geld übrig gelassen hat. Oder wie viel von seinen Neuanschaffungen er tatsächlich bezahlt hat. All das schlucke ich ungesagt

Weitere Kostenlose Bücher