Herzbesetzer (German Edition)
ich ihn? Wäre ich dann am Ziel meiner Wünsche, oder würde das alles nur noch schwieriger machen? In was verrenne ich mich da überhaupt? Warum gelingt es mir nicht, diese sinnlose Schwärmerei endlich zu überwinden? Ach, er ist so wunderschön … so perfekt … Ich kneife die Augen zusammen, weil sie plötzlich zu brennen beginnen. So was ist mir noch nie passiert: dass ich jemanden so sehr wollte und so wenig Aussichten hatte, ihn zu kriegen. Es fühlt sich miserabel an, als wäre ich ein alter Lustmolch, der jede Hoffnung auf ein erfülltes Liebesleben längst hinter sich gelassen hat und sich nur noch am Anblick hübscher Knaben aufgeilt. Bin ich schon so weit? Mit vierundzwanzig? Scheiße. Das nennt man wohl vorzeitige Vergreisung.
Als ich am nächsten Morgen unter der Dusche stehe, kommt Anoki einfach ins Bad und putzt sich die Zähne. Das hat er noch nie gemacht. Ich habe eine gläserne Duschkabine, die zwar voller Wasserspritzer und mit Dampf beschlagen ist, aber es kommt mir so vor, als schaue er ziemlich oft zu mir rüber. Kaum stelle ich den Wasserhahn ab, schnappt er sich mein Handtuch und nimmt mich damit in Empfang. Er macht tatsächlich Anstalten, mich abzurubbeln. Großer Gott! Ich muss mich zusammenreißen, dass ich ihn nicht wegstoße, sondern ihm nur einigermaßen lässig das Handtuch entwinde.
»Lass mal«, stoße ich hervor, »das mach ich besser selbst.«
Er lächelt kokett. »Wieso? Meinst du, ich kann das nicht?«
Ich bin erschrocken und bemühe mich, es nicht zu zeigen. »Nee, du bist ja selbst nicht trocken hinter den Ohren«, sage ich.
72
Anoki hat keineswegs aufgegeben. Er hat lediglich seine Strategie geändert. Aber statt misstrauisch zu werden, genieße ich die Tatsache, dass er sich heute wie ein Musterkind benimmt. Kaum sind wir bei Judith eingetroffen, macht er sich in der Küche nützlich und hilft ihr, den Tisch fertig zu decken. Statt mit dem gewohnten Gleichmut riesige Mengen an Essen in sich reinzuschaufeln, isst er manierlich und mit Genuss und findet lobende Worte für alles, was Judith selbst gemacht hat (die Erdbeermarmelade, das Mehrkornbrot, die Lachsbutter und den Geflügelsalat). Er spricht in zusammenhängenden Sätzen, sogar mit Una. Er macht eine witzige, aber keineswegs abwertende Bemerkung über Judiths selbst genähte Vorhänge. Und er flicht immer wieder Bemerkungen ein wie: »Julian mag nicht so gerne Fisch, stimmt’s, Juli?« oder: »Das sagt Julian jedenfalls immer, und ich seh das genauso.« Außerdem reicht er mir ungefragt den Salzstreuer, während ich noch mein Ei aufklopfe, gießt mir Kaffee nach, sobald ich den letzten Schluck getrunken habe, rennt in die Küche, um mir ein frisches Messer zu holen, nachdem mir meins runtergefallen ist, und nötigt mich, von seinem Marmeladenbrötchen abzubeißen (»Bitte – das musst du jetzt probieren! Schmeckt absolut krass!«).
Als wir das ausgedehnte Frühstück beendet und den Tisch abgeräumt haben, fragt Judith: »So, wollen wir los?«
Anoki schaut mich besorgt an und sagt: »Du siehst voll müde aus, Julo. Willst du dich nicht erst ’n bisschen ausruhen?«
An diesem Punkt dämmert mir allmählich, was er bezweckt. Aber ich kann ihn doch nicht anschreien: »Hör auf, so verdammt lieb zu mir zu sein!«
Das würde nicht mal Judith verstehen, und die versteht fast alles. Also bin ich dem Bombardement seiner liebevollen Aufmerksamkeit wehrlos ausgesetzt, und er dokumentiert unmissverständlich, dass ich sein höchstpersönliches Eigentum bin, an dem er das alleinige Nutzungsrecht besitzt. Ich mache einen ersten hilflosen Versuch der Gegenwehr, indem ich sage: »Nee, wenn Judith jetzt sofort gehen möchte, dann gehen wir jetzt sofort«, aber damit rufe ich nur neue Verwicklungen hervor, denn natürlich sagt Judith daraufhin: »Quatsch, so eilig ist es doch nun auch nicht. Lass uns ruhig noch eine kleine Erholungspause einlegen«, und Anoki nutzt die Gelegenheit, mich auf das Sofa zu bugsieren wie einen zuckerkranken Opi und Judith in Chefarztmanier mitzuteilen: »Wenn Julian diese Schatten um die Augen kriegt, ist es höchste Zeit, dass er sich was hinlegt.«
Da Judith Nichtraucherin ist, zieht Anoki sich zum Qualmen auf ihren Balkon zurück, und sie setzt sich zu mir und flüstert: »Was ist denn mit dem los?«
Ich könnte ihr das erklären, halte es aber nicht für zielführend, deshalb zucke ich nur die Achseln.
Judith guckt nachdenklich in Richtung Balkon, dann fragt sie: »Ihr steht
Weitere Kostenlose Bücher