Herzbesetzer (German Edition)
und ich frage mich, wo sie jetzt ist, wie lange sie wegbleiben wird, ob sie überhaupt wiederkommt, was zu dieser Entscheidung geführt hat und so weiter. Ob sie wirklich einen anderen Mann hat, wie Anoki schon seit Monaten behauptet? Oder will sie einfach ihre Ruhe von allem? Wer waren die beiden, die ihr beim Packen geholfen haben? Ihr Neuer und eine Freundin? Oder ein befreundetes Paar? Ich muss Anoki unbedingt noch mal befragen, wie sie ausgesehen haben, denn falls es Leute waren, die ich kenne, könnte ich sie anrufen und fragen, wo meine Mutter jetzt ist. Eins weiß ich jedenfalls mit Sicherheit: von Außerirdischen entführt wurde sie nicht.
Das bringt mich dazu, an Anoki zu denken und mich zu fragen, wie er das verkraften soll: zum zweiten Mal im Stich gelassen. Von jemandem, der voller Begeisterung versprochen hat, für ihn da zu sein, sich um ihn zu kümmern, ihm ein Zuhause zu geben – ihn aus der Verlassenheit zu retten! Ich spüre wieder, wie ohnmächtiger Zorn auf meine Mutter in mir hochbrodelt, und durchwühle hektisch meine Jackentasche nach den Tabletten. Meine Hände zittern. Ich brauche mehrere Anläufe, bis ich die Kapsel durch die Folie gedrückt habe. Diesmal beobachten mich beide Kollegen, und obwohl ich mich kaum darum kümmere, entgeht mir nicht ihr Stirnrunzeln. Das macht mich noch wütender, und ich drücke gleich noch eine zweite Kapsel heraus. Als ich mir Mineralwasser ins Glas fülle, verschütte ich den größten Teil davon. Jörg steht wortlos auf und holt Papier aus dem Handtuchspender.
»Danke«, murmele ich abwesend und tupfe die Tischplatte damit ab. Er bleibt neben meinem Arbeitsplatz stehen, und ich sehe zu ihm hoch.
»Gegen Tollwut?«, fragt er und deutet auf die beiden Kapseln in meiner Handfläche.
Ich nicke und halte sie ihm hin: »Willst du auch eine?« Da er nicht antwortet, knurre ich ihn grollend an. Er verzieht sich hastig und tauscht sorgenvolle Blicke mit Martin.
Wenige Minuten vor vier öffnet sich die Tür unseres Büros, und drei erwartungsvolle Augenpaare treffen auf Anoki in voller Katastrophenaufmachung. Er ruft »Tach zusammen«, stürzt sich mit einem freudigen Quieken auf mich, umklammert mich von hinten, bis ich fast vom Stuhl kippe, und setzt sich dann nonchalant auf meinen Schreibtisch. Ich riskiere einen vorsichtigen Seitenblick zu meinen Kollegen, die mit offenen Mündern dasitzen und nicht mehr atmen. Soll ich einen Notarzt holen?
»Überraschung!«, zwitschert Anoki. »Ich wollte endlich mal sehen, wo du tagsüber so die Zeit totschlägst. Komm, erklär mir mal alles.«
Ich lächle bemüht und bringe ein »Ach, weißt du …« hervor, aber Anoki hört mir sowieso nicht zu, sondern beugt sich zu meinem Bildschirm rüber.
»Cool«, sagt er andächtig. »Und das hast du gemacht? Geil.« Er nimmt mein Wasserglas und trinkt es leer, dann rutscht er wieder von der Tischplatte herunter und wendet sich meinen nach wie vor hypoventilierenden Kollegen zu.
»Können die auch sprechen?«, fragt er mich. »Ich meine, sind die echt?«
»Das ist Jörg, und das ist Martin«, sage ich schnell, »und das hier ist mein Bruder Anoki.«
Die beiden erwachen aus ihrer Starre, Jörg nickt, und Martin lässt etwas wie »Hi!« hören, dann beugen sie sich synchron über ihre Tastaturen. Anoki kichert zufrieden und streift durch unser Büro, wobei er alles Mögliche in die Hand nimmt, kurz betrachtet und dann gelangweilt wieder wegstellt. »Komm, lass mal abhauen«, sagt er, da er weder Alkohol oder Drogen noch pornografische Fotos findet, »ist schon vier Uhr.«
Das halte ich für eine ziemlich gute Idee – nichts wie weg hier. Ich fahre in aller Eile meinen PC runter, bringe mein Glas in die Teeküche, pflücke meine Jacke von der Stuhllehne und trete nach sehr knapper Verabschiedung von Jörg und Martin die Flucht an, meinen aufsehenerregenden Bruder hinter mir herziehend. Unglücklicherweise besteht diese kompromittierende, geschminkte, gepiercte Kreatur mit dem Hundehalsband darauf, von mir den kompletten Verwaltungsbereich und außerdem noch das ganze Möbelhaus gezeigt zu bekommen. Mit einem Sack über dem Kopf (egal ob über meinem oder über seinem) würde mir das fast gar nichts ausmachen. Ich kann mich leider wieder nicht durchsetzen, also führe ich ihn überallhin, wobei ich mich bemühe, so schnell zu sein, dass mich keiner erkennt, und stets einen möglichst großen Abstand zu ihm zu halten, der eventuell verhindert, dass man uns in Zusammenhang
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