Herzbesetzer (German Edition)
gelingt ein fragender Blick der Spitzenklasse. »Hm? Was denn?«
»Was du von diesen Typen bekommen und in deine Hosentasche gesteckt hast«, sage ich ungeduldig. »Und würdest du bitte aufhören, dich so naiv zu stellen.«
Anoki sieht sich in alle Richtungen um. »Hä? Was denn für Typen?«
Ich stehe kurz davor, inmitten der versammelten Elternschaft eine Kostprobe von Gewalt gegen Kinder abzuliefern. Nur die erwartungs- bis vorwurfsvollen Blicke der beiden Muttis mit Kinderwagen links von mir halten mich davon ab. Komisch – wo haben die denn hingeguckt, als Anoki seine Drogendeals getätigt hat?
»Mach deine Hosentaschen leer«, sage ich gefährlich leise. Mein oscarreifer Bruder guckt verzweifelt zu seinem gebannten Publikum rüber. Würde mich nicht wundern, wenn er gleich schreit: »Hilfe, der Mann hier belästigt mich!« Dann schiebt er die Hände in die Hosentaschen und befördert drei Münzen, Kaugummieinwickelpapier, eine Patronenhülse, zwei Centershocks, einen zerknitterten Kassenbon und einen kaputten Button ohne Nadel zutage (»Arbeiten macht Spaß – Lügen auch«). Um zu bekommen, was ich will, müsste ich ihn schon eigenhändig filzen, aber so viel Freude mir das auch bereiten würde – hier geht das beim besten Willen nicht. Anoki steht mit riesengroßen Augen vor mir wie ein Sinnbild der Unschuld. Die Muttis mustern mich giftig. Gleich krieg ich bestimmt eine vollgeschissene Windel um die Ohren geschlagen. Okay, ich kapituliere, jedenfalls vorläufig.
»Komm, wir gehen«, sage ich müde und steuere zurück zu Judith und Una. Anoki folgt mir fügsam.
Judith scheint davon auszugehen, dass wir den kompletten Sonnabend gemeinsam verbringen. Sie fragt Anoki, ob er Hunger hat, was er natürlich bejaht, woraufhin sie anbietet, zu Hause etwas Schönes für uns zu kochen.
»Ich könnte Bandnudeln mit gerösteten Pinienkernen und Schafskäse machen«, lockt sie, »das schmeckt dir bestimmt.« Interessant, dass sie mich nicht fragt. Und dann behauptet sie, dass Anoki mich manipuliert. Ist ja lächerlich. Hier manipuliert doch jeder an mir herum, ganz nach Belieben. Ich für meinen Teil wäre jetzt lieber mit Anoki allein, um ihn einer körperlichen Durchsuchung und einer anschließenden konsequenten Bestrafung zu unterziehen … aber wenn ich so sehe, was dieser Gedanke bei mir auslöst, ist es vielleicht doch besser, wir bleiben noch bei Judith. Ich nehme eine einfache Reizumleitung vor und drücke sie zärtlich an mich, als könnte der Auslöser auch nach der Reaktion folgen. »Wir helfen dir aber beim Kochen«, verspreche ich großzügig.
74
Ich habe die ganze Zeit in regelmäßigen Abständen zu Hause angerufen und Tante Anette vermutlich fürchterlich genervt. Während Judith das Essen zubereitet (sie will uns nicht in der Küche haben) und Anoki mir eine weitere Ruhepause verordnet hat, drücke ich die Wiederwahl-Taste und habe meinen Vater selbst am Apparat. Er hört sich dumpf und müde an, aber ich bin erleichtert, dass er sich wieder zum Telefonieren in der Lage fühlt.
»Alles in Ordnung bei dir?«, frage ich. »Soll ich vorbeikommen? Ich könnte in einer Stunde bei dir sein, wenn du möchtest.«
»Lass mal, geht schon«, sagt er. »Hast du was von Mama gehört?«
Es tut mir weh, seine Hoffnung enttäuschen zu müssen. Andererseits sollte er doch wissen, dass ich der Letzte wäre, den meine Mutter informieren würde! Er muss schon ziemlich verzweifelt sein. Nachdem ich ein paar hilflose Versuche unternommen habe, ihm etwas Trost zu spenden, komme ich vorsichtig auf unseren kleinen Junkie zu sprechen.
»Anoki muss am Montag wieder zur Schule«, beginne ich. »Das heißt, ich müsste ihn morgen Abend nach Hause zurückbringen.«
Mein Vater murmelt irgendetwas, das nicht sehr ermutigend klingt.
»Glaubst du, du kommst mit ihm klar?«, frage ich. Es entsteht eine qualvolle Pause. »Na, muss ich ja wohl«, lautet schließlich die Antwort.
Ich werfe Anoki einen Seitenblick zu: Er lauscht angestrengt und guckt mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
»Schön«, sage ich unangemessen optimistisch, »dann kommen wir so gegen acht.«
Nachdem ich das Gespräch beendet habe, sagt Anoki düster: »Das geht nicht gut.« Mit diesen Worten verschwindet er zum Rauchen auf den Balkon. Ich gehe ihm nach.
»Jetzt mach dir mal keine Sorgen«, sage ich wider meine Überzeugungen. »Er hört sich wieder ganz normal an. Das wird schon. Dann seid ihr jetzt eben so ein richtig chaotischer
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