Herzbesetzer (German Edition)
ihn an. Er gehorcht sofort. Judith guckt mich befremdet an, ehe sie die Teller in den Geschirrspüler stellt. Das ist ja großartig – jetzt bin ich also der üble Schurke, der gewissenlos seine ihn innig liebende Freundin betrügt und ein hilfloses Kind brutal unter Druck setzt, was? Anoki kommt mit zwei Gläsern zurück (hoffentlich hat er sich nicht überanstrengt).
»Hab sie mal gesehen«, piepst er, erneut mit einem scheuen Blick in meine Richtung. Fehlt nur noch, dass er sich schützend die Hände vors Gesicht hält, sobald ich eine rasche Bewegung mache.
»Wie lange bist du denn nicht mehr mit ihr zusammen?«, fragt Judith mich, und während ich noch nachrechne, antwortet Anoki an meiner Stelle: »Ach, das sind schon mindestens sechs Wochen«, denn er weiß ja ganz genau, seit wann Judith und ich ein Paar sind. Bestimmt hat er sich diesen Tag in seinem Kalender mit Totenköpfen markiert. Und er weiß auch, dass Judith jetzt ebenfalls zu rechnen beginnt.
»Das war ja wirklich ein gelungener Abend«, beginne ich, als wir zwei Stunden später endlich allein in meinem Auto sitzen. »Ganz herzlichen Dank.«
Anoki, jetzt wieder im Vollbesitz seiner impertinenten Lässigkeit, räkelt sich behaglich auf dem Beifahrersitz. »Freut mich, dass es dir gefallen hat«, erwidert er frech. »Das Essen war allerdings ziemlich scheiße. Kannst du mal an irgend’n Dönerstand ranfahren?«
»Halt die Schnauze, oder du landest selbst auf einem Dönerspieß!«, wüte ich. »Von mir kriegst du überhaupt nichts mehr! Null! Niente! Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«
Ich weiß genau, was er jetzt sagen wird: »Bei was denn?« Und zwar so unschuldig wie ein Perwoll-Bärchen. Ich kann nur noch zornig zischen. Sinnlos, mit ihm zu reden. Rund zehn Minuten später sagt Anoki: »Hätte doch wirklich ’ne SMS von deiner Mutter sein können. Ich frag mich die ganze Zeit, wo die ist.«
Prompt bekomme ich ein schlechtes Gewissen, weil ich vergessen habe, dass Anoki ein mehrfach verlassenes Kind ist. Vielleicht hat er das beabsichtigt, aber auch wenn ich wirklich sehr, sehr wütend auf ihn bin – ich glaube, das war ihm jetzt ernst.
»Na ja, ich auch«, gebe ich zu. »Aber mir wird sie’s bestimmt nicht sagen.«
Anoki guckt eine Weile aus dem Seitenfenster ins nächtliche Berlin. »Manchmal frag ich mich, was schlimmer ist«, sagt er dann. »Gar keine Eltern oder Eltern, die dich nicht leiden können.«
Zu meinem Entsetzen bildet sich bei seinen Worten ein solcher Kloß in meiner Kehle, dass ich nicht mehr weiterfahren kann. Ich steuere den Wagen an den Straßenrand, und dann liegen wir uns in den Armen, heulen alle beide und bemühen uns, es den anderen nicht spüren zu lassen. Vor fünf Minuten habe ich Anoki noch so gehasst, dass ich ihn verprügeln wollte. Jetzt weiß ich wieder, dass er der einzige Mensch ist, der mich versteht, der einzige, der mich kennt – der einzige, der mich liebt. Den ich liebe. Oder wie jetzt? Ach, egal.
70
Anoki wollte mich überreden, dass ich auch am Freitag zu Hause bleibe, aber mein Pflichtbewusstsein hat gesiegt, und jetzt sitze ich an meinem Arbeitsplatz und ärgere mich. Ich wünsche mir, zu Hause zu sein und mit Anoki zu frühstücken. Ich würde den Löffel ins Nutellaglas tauchen und ihm hinhalten, und er würde ihn genießerisch ablecken und mich dabei hingebungsvoll ansehen, und ein bisschen Nussnougatcreme würde in seinem Mundwinkel zurückbleiben, und ich würde … Ich würde wohl besser mal ans Telefon gehen, nehme ich an. Es ist Frau Letkowski aus der Personalabteilung, wofür ich ungeheuer dankbar bin, denn sie ist Mitte fünfzig, trägt Polyesterpullover und hat ein Doppelkinn, und an sie zu denken ist auf jeden Fall gesünder. Nach meinem zweiminütigen Gespräch mit ihr fühle ich mich wieder wie ein normaler Arbeitnehmer an einem Freitagvormittag und widme mich eifrig meinen Aufgaben.
Jörg muss mich beobachtet haben, denn ein paar Klicks später fragt er: »Was hast’n gehabt gestern?«, und diese Frage klingt irgendwie süffisant. Oder bin ich bloß überempfindlich?
»Tollwut«, antworte ich. »Ist noch nicht ganz abgeheilt, aber geht wieder.«
Ich kann leider nicht verhindern, dass ich mir Sorgen um meine Mutter mache. Dabei hat sie das gar nicht verdient. Schließlich macht sie sich ihrerseits nicht die geringsten Sorgen um uns, weder um meinen Vater noch um Anoki, na ja, und um mich sowieso nicht. Trotzdem schweifen meine Gedanken regelmäßig ab,
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