Herzbesetzer (German Edition)
mehr weiß, wie ich nach Hause gekommen bin.
Da ich Anoki zwischenzeitlich nicht mehr zu Gesicht kriege und er mich folglich auch nicht mit seinem ängstlichen Blick besänftigen kann, steigere ich mich bis Weihnachten in einen irrwitzigen Hass auf ihn hinein. Ich kann es einfach nicht ertragen, dass er jetzt all das – und noch viel mehr – bekommt, was ich mir fünf Jahre lang erfolglos von meinen Eltern gewünscht habe. Warum? Was hat er dafür geleistet, außer dass er ein bisschen bedröppelt guckt und uns eine zugegeben knallharte Kindheitsgeschichte aufgetischt hat? Qualifiziert ihn das zum verwöhnten Liebling? Er hat doch noch nichts für unsere Familie geleistet! Er hat meinem Vater nicht geholfen, den Anbau zu verputzen, er hat meiner Mutter kein Gedicht zum Geburtstag geschrieben, er hat noch nie den Tisch gedeckt, die Garage aufgeräumt, den Rasen gemäht oder Pfandflaschen weggebracht. Dieses ganze Getue um ihn basiert auf – nichts. Er kriegt es auf Kredit, und ich bezweifle, dass er die Raten bezahlen wird.
Im Gegensatz dazu habe ich mich mein ganzes Leben lang bemüht, ein ordentlicher Trojan zu sein, habe meinen Eltern Liebe und Respekt entgegengebracht, habe mich um alles gekümmert, habe meinen kleinen Bruder durch die Gegend getragen und gehütet – und das ist jetzt der Lohn dafür. Sie holen sich einen Underdog aus dem Heim und geben ihm, was mir zusteht. Also echt, ich kann nicht glauben, dass irgendjemand das in Ordnung findet. Aber ich finde keinen, mit dem ich darüber reden kann.
Eine Woche vor Heiligabend gehe ich Weihnachtseinkäufe machen. Ich besorge ein schönes Seidentuch, einen Radiowecker und einen sündhaft teuren Schirm von Pierre Cardin für meine Mutter, mein Vater bekommt eine funkgesteuerte Wetterstation, seine geliebten dänischen Butterkekse und eine DVD. Zu Hause packe ich die Geschenke in weihnachtliches Papier ein, und dann fällt mir auf, dass ich nichts für Anoki habe. Wut steigt in mir hoch. Nichts liegt mir ferner, als diesem anmaßenden Fratz auch noch Geschenke zu machen, aber ich weiß ganz genau, dass das von mir erwartet wird und dass ich für einen Rieseneklat sorgen würde, wenn ich Heiligabend mit leeren Händen dastünde. Ich sehe die Gesichter meiner Eltern schon vor mir. »Wie kannst du nur so gedankenlos sein, das ist grausam, schau doch, wie enttäuscht er ist, dabei hält er so große Stücke auf dich, blablabla.«
Also ziehe ich am nächsten Tag noch mal los, brodelnd vor Zorn. Am liebsten würde ich ihm ein Briefchen Rasierklingen schenken, dass er sich die Pulsadern damit aufschneiden kann. Ich marschiere lust- und ziellos durch die Fußgängerzone und habe keine Ahnung, was ich für Miezekätzchen holen soll, aber dann komme ich bei Rossmann an einem Regal mit schönen Kulturtaschen vorbei und erinnere mich an seine H&M-Tüte. Okay, das ist es. Ich entscheide mich für eine schwarze Tasche mit großem Reißverschluss und kaufe auch noch ein paar Sachen zum Befüllen: eine elektrische Zahnbürste, Zahnpasta, Wellness-Duschgel, einen Deoroller, Seife mit Lavendelduft in einer passenden Dose und als Investition in die Zukunft Einwegrasierer, Rasierschaum sowie eine Schachtel Kondome. Vielleicht fasst er das Ganze als persönliche Beleidigung auf, so als wollte ich ihm damit ein bisschen Körperpflege nahelegen, dann kann ich es auch nicht ändern. Ich hab’s jedenfalls gut gemeint. Auf dem Rückweg komme ich bei H&M vorbei, und ich denke mir, dass er mit Sicherheit auch was zum Anziehen gebrauchen kann, deshalb suche ich noch eine schwarz-weiß geringelte Sweatjacke mit Reißverschluss und Kapuze für ihn aus. So, jetzt reicht’s aber.
Während ich in meiner Wohnung auch diese Einkäufe noch in Geschenkpapier wickle (ich musste dafür extra neues kaufen!), fällt mein Blick wieder mal auf das Foto von Anoki, das immer noch an meiner Pinnwand hängt. In den letzten Wochen hatte ich ab und zu in Erwägung gezogen, es mit Dartpfeilen zu bewerfen, aber dann siegte jedes Mal mein Über-Ich, und deshalb ist es noch völlig unversehrt und außerdem nach wie vor ein verteufelt gutes Bild. Da stimmt einfach alles: Perspektive, Lichteinfall, Kontrast, Farbabstimmung, na ja, und nicht zuletzt auch Anokis hübsche Visage, verdammt. Ich nehme das Foto von der Pinnwand und suche nach den Ikea-Bilderrahmen, die ich vor einigen Monaten mal auf Vorrat gekauft habe, weil sie gerade im Angebot waren. Auch wenn es mich viel Überwindung kostet und alles
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