Herzbesetzer (German Edition)
schon als neues Familienmitglied mit uns feiern.«
»Ach, schön«, ächze ich bemüht. Jetzt bin ich also nicht nur der Brudermörder, sondern auch noch entthront. Hab ich eigentlich überhaupt noch irgendeine Funktion in der Familie Trojan? Außer der des Sündenbocks? Als hätte meine Mutter meine Gedanken gehört, sagt sie: »Übrigens scheint Anoki dich sehr zu mögen. Er hat auf der Rückfahrt ein paar Mal von dir gesprochen. Es kommt mir so vor, als würde er dich bewundern.« Mich? Wofür denn, für meine Mordmethoden? »Wann zieht er denn bei euch ein?«, frage ich.
»Sobald die Weihnachtsferien angefangen haben«, erklärt meine Mutter. »Dann ist es leichter für ihn mit dem Schulwechsel. Ich melde ihn morgen hier auf der Puschkin-Schule an.« Herrgott, sie lässt wirklich nichts anbrennen. Und das nach einem einzigen Wochenende, an dem Anoki ungefähr hundert Wörter gesprochen hat. Die meisten davon mit mir.
Dieser Gedanke erfüllt mich mit einer gewissen Häme und mit einem merkwürdigen Stolz, und plötzlich sehe ich den Familienzuwachs als Chance. Wer weiß, vielleicht kann ich Anoki zu meinem Verbündeten machen und damit meine Position verbessern! Vielleicht kann ich mich mit ihm gegen meine Eltern zusammenschließen! Es wäre schön, mal wieder nach Hause zu fahren und das Gefühl zu haben, dort willkommen zu sein, ohne Vorwurf, ohne latente Schuldzuweisung, ohne dieses passiv zur Schau getragene Leiden. Anoki hat mit dem Unfall, mit Benjamins Tod nicht das Geringste zu tun. Er ist neutral. Er könnte tatsächlich so etwas wie ein neuer kleiner Bruder werden – jemand, der zu mir aufsieht, der mich bei meinen Eltern verteidigt, der mit mir Dummheiten macht und zu mir hält.
»Das ist wirklich toll«, sage ich mit neu erwachtem Enthusiasmus. »Ich freu mich schon, echt.«
Nach dem Telefonat schalte ich meinen PC ein und schiebe die SD-Karte aus meiner Kamera in den Slot. Ich will die Bilder bearbeiten, die ich am Wochenende gemacht habe. Mein Blick bleibt an den Fotos von Anoki auf der Stadtmauer hängen. Was für ein verflucht fotogener, selbstbewusster kleiner Bengel! Den ganzen Abend bastle ich an diesen vier Bildern herum, ich experimentiere mit Ausschnitten, Helligkeit, Kontrast und weiß der Teufel was. Dann drucke ich das beste davon aus. Ich habe einen wirklich guten, beinahe schon professionellen Fotodrucker – immerhin ist das mehr oder weniger mein einziges Hobby –, und das Ergebnis kann sich sehen lassen. Dieses Kerlchen ist wirklich ein begabtes Model (und ich bin natürlich ein genialer Fotograf). Ich hefte das Bild an meine Pinnwand und nehme mir vor, bei nächster Gelegenheit eine kleine Session mit Anoki zu machen. Dann rufe ich Janine an, und sie ist tatsächlich bereit, noch heute zu mir zu kommen – geil! Vielleicht hat sie’s genauso nötig wie ich.
Die Zeit bis Weihnachten ist eine harte Bewährungsprobe, denn meine Eltern kennen kein anderes Thema mehr als Pussycat Anoki. Sie erzählen mir, wie sie Benjamins Zimmer für ihn herrichten – was mich fast zum Wahnsinn treibt –, dass er jetzt in der Schule angemeldet ist, dass sie ihm zu Weihnachten ein Skateboard schenken wollen, welche Formalitäten mit dem Heim und mit dem Jugendamt zu regeln sind und so weiter, und so fort. Ich rede mit meinem Kumpel Olaf darüber, nachdem wir beide nicht mehr ganz nüchtern sind, aber er sagt bloß: »Mann, stell dich doch nicht so an. Du bist doch längst zu Hause raus, was geht’s dich überhaupt an? Du bist vierundzwanzig, Alter! Irgendwie hab ich das Gefühl, du solltest dich mal ein bisschen von deinen Eltern abnabeln!«
»Na super, vielen Dank«, fauche ich beleidigt, »das mach ich ganz bestimmt, sobald ich endlich das von ihnen bekommen habe, was mir zusteht!«
»Und was soll das sein?«, fragt er etwas gelangweilt.
Ich denke kurz darüber nach. »Wertschätzung«, sage ich dann, »Anerkennung, Zuneigung, Vertrauen, ja, und Absolution. Ich will, dass sie endlich aufhören, mich wie einen Verbrecher zu behandeln.«
Olaf gibt keine Antwort, deshalb hake ich nach einer Pause nach: »Du findest, das ist zu viel verlangt, was?«
Er macht ein verlegenes Gesicht. »Tja, was soll ich sagen … Ich meine, Benni ist ja immer noch tot.«
Diese Worte versetzen mir einen Schock. Ich dachte, Olaf ist mein Freund und steht zu mir. Wenn er schon so was sagt – wie denken dann erst alle anderen? An diesem Abend lasse ich mich so volllaufen, dass ich einen Filmriss habe und nicht
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