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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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und Knochen zermalme, und stelle mir vor, wie sein hübsches, zartes Kindergesichtchen sich in eine blutige amorphe Masse verwandelt.
    »Wir könnten die Sachen wieder raufholen«, sagt Anoki. »Soll ich dir helfen?« Warum macht er das? Warum sorgt er dafür, dass ich mich jetzt noch mehr schäme? Allein dafür müsste ich ihn zerquetschen. Scheiße, ich steh ganz schön neben mir. Meine Hand zittert, als ich in meiner Jackentasche nach den Tabletten taste und gleich zwei davon einwerfe. Wie nicht anders zu erwarten, fragt Anoki: »Was nimmst’n da?«
»Nichts für kleine Kinder«, sage ich automatisch, und dann fällt mir ein, dass ich genau dasselbe immer zu Benjamin gesagt habe, wenn er mich mit seiner Fragerei nervte, und mir schießen Tränen in die Augen. Megapeinlich. Anoki setzt sich neben mich aufs Bett, legt mir den Arm um die Schultern und schweigt. Es ist genau das, was ich jetzt brauche. Ich hasse ihn dafür.

 
 
11
    Meine Mutter flattert durchs Haus wie ein Suppenhuhn. Warum macht sie so ein Aufhebens? Nimmt sie an, dass Anoki noch an den Weihnachtsmann glaubt? Sie lässt uns noch nicht mal beim Schmücken des Baums helfen; das erledigt traditionell mein Vater.
    »Am besten macht ihr beide mal einen schönen, langen Spaziergang«, wedelt sie Anoki und mich fort. Wir packen uns in mehrere Lagen wärmender Kleidung und stiefeln los. Es hat geschneit, und ich freue mich insgeheim, weil Anoki sein neues Skateboard nicht wird ausprobieren können. Hoffentlich bleibt der Schnee bis Ende März liegen. Fast jeder meiner Gedanken geht in so eine Richtung: Böswilligkeit, Eifersucht und Gemeinheit. Schweigend marschieren wir nebeneinander durch den Stadtpark und pusten kleine Wölkchen in die eisige Luft. Außer uns ist niemand hier.
    Ziemlich unverhofft kommt die Sonne raus und bringt alles zum Glitzern; ich zücke sofort die Kamera.
    »Stell dich mal dahin«, weise ich Anoki an. Er nimmt augenblicklich eine vollkommen natürlich wirkende, ungeheuer dekorative Stellung ein und achtet genau darauf, dass er den optimalen Hintergrund hat. Ich mache eine ganze Serie von Fotos. Unglaublich – dieses Lächeln! Als wäre sein ganzes Leben ein wunderbarer Traum!
    Nachdem meine Finger zu steifgefroren sind, um noch länger den Auslöser drücken zu können, fragt er mich: »Warum machst du eigentlich Bilder von mir? Klebst du die dir in die Kloschüssel?«
    Gegen meinen Willen muss ich lachen. »Geniale Idee«, gebe ich zu. »Bisher hab ich sie nur mit Pfeilen beworfen und als Fußmatte verwendet, aber das ist natürlich noch viel besser.«
    Anoki grinst und wird dann wieder ernst. »Mal im Ernst«, beharrt er. »Ich würde keine Bilder von jemand machen, den ich nicht leiden kann.«
»Fotografieren ist eben mein Hobby«, sage ich, »und du hast irgendwie Talent, dich in Szene zu setzen.« Er gibt keine Antwort, da bekomme ich ein schlechtes Gewissen und füge hinzu: »Du bist ziemlich fotogen.«
    Anoki wechselt mal wieder abrupt das Thema. »Wenn meine Eltern mich jetzt suchen, glaubst du, die würden mich hier auch finden?«
    Ach du Scheiße! Soll ich jetzt etwa auch so tun, als würden sie eines Tages kommen und ihn holen? »Ach, Anokilein, so was Dummes, da haben wir dich doch glatt vier Jahre lang vergessen! Was sind wir doch schusselig!« Ich setze an: »Hör mal …« Dann setze ich noch mal neu an. »Na klar finden sie dich auch hier. Du hast ja nicht deinen Namen geändert oder so. Wenn sie über das Jugendamt nach dir forschen, kriegen sie sofort deine Adresse.«
    Er tritt heftig gegen eine Schneeverwehung, so dass sie zerstiebt. Da kapiere ich, dass er etwas anderes hören wollte, nämlich dass er praktisch unauffindbar ist und dass seine Eltern deswegen nicht kommen. Und nicht weil sie ihn aus ihrem Gedächtnis gestrichen haben. Er stellt sich wahrscheinlich gerne vor, dass sie ihn wie verrückt überall suchen. »Aber ich glaub, meine Eltern würden dich nur ungern wieder rausrücken«, füge ich deshalb hinzu.
    Anoki sieht mich schräg von der Seite an: »Aber du wärst heilfroh.«
    Ich verdrehe die Augen. Gemein und grausam zu ihm zu sein war irgendwie erheblich leichter. »Nein«, seufze ich, »wäre ich nicht.« Es klingt nicht sehr überzeugend. Wir laufen ungefähr fünf Minuten lang schweigend nebeneinander her, dann sage ich: »Das war ziemlich nett von dir, das Zimmer zu tauschen.« Na endlich! Ein schwaches Lächeln.  
    Allmählich kommt so etwas wie eine flüssige Unterhaltung in Gang.

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