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Herzbesetzer (German Edition)

Herzbesetzer (German Edition)

Titel: Herzbesetzer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.A. Wegberg
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in mir sich dagegen sträubt, muss ich einsehen, dass das ein tolles Geschenk für meine Eltern ist. Also packe ich das gerahmte Bild ebenfalls weihnachtlich ein und seufze dabei vor Selbstekel.

 
 
10
    Drei Tage vor Weihnachten beginnen die Schulferien. Das bedeutet: heute wird Anoki in mein Elternhaus einmarschieren und sich dort breitmachen. Ganz besonders in Benjamins Zimmer, diesem Schrein der Totenverehrung, diesem Ort der Meditation, der Reue, der heimlichen Tränen und des stummen Zwiegesprächs mit meinem immer noch so sehr geliebten Bruder. Nie mehr werde ich dort auch nur eine Spur von Benni finden. Von heute an wird dieses Zimmer nur noch nach Anoki riechen, weil Pussykater dort nämlich an jeder glatten Fläche seine Markierungen absetzen wird. Ich habe keine Ahnung, wie ich das ertragen soll, ohne mir einen weiteren Mord aufs Gewissen zu laden. Aber das gehört wohl alles zum weiten Feld der Buße, die seit fünf Jahren und zwei Monaten Tag für Tag mein Leben bestimmt.
    Ich selbst reise erst am Abend des 23. Dezember an. Vor meinem Elternhaus bleibe ich noch lange im Auto sitzen, krampfe die Hände ums Lenkrad und finde nicht den Mut hineinzugehen. Jede Zelle meines Körpers schreit vor Wut, Schmerz und Widerstand. Seit Benjamins Tod ist es mir nie leichtgefallen, diese Schwelle zu überschreiten – das war immer verbunden mit einer ganzen Reihe negativer Empfindungen. Eigentlich war es meist der Wunsch, Benni auf irgendeine Weise näher zu sein, der sie mich hat überwinden lassen, denn sein Geist schien noch durch die Räume zu schweben, und das gab mir Trost.
    Heute ist selbst das vorbei. Statt Bennis Geist wird diese verwahrloste Kreatur hier herumspuken und alles zunichte machen, was mich noch an das Heim meiner Kindheit gebunden hat. Was soll ich hier überhaupt? Wäre es nicht besser, ich fahre jetzt sofort zurück nach Berlin in meine Junggesellenwohnung und gebe mir die Kante, um irgendwann nach Neujahr aus dem Koma zu erwachen? Ich könnte die mitgebrachten Geschenke vor der Haustür ablegen (was soll ich schließlich mit dem Kram) und einfach wieder abhauen, ohne dass es jemand bemerkt. Wer weiß, vielleicht vermissen sie mich nicht mal. Vielleicht sagt mein Vater beim Silvesterfeuerwerk: »Also, ich weiß nicht, irgendwie kommt es mir so vor, als hätten wir was vergessen«, und meine Mutter erwidert: »Ja, mir auch – oh, ich glaube, ich hab den Backofen angelassen!« Und danach erwähnen sie mich nie mehr. 
    In meinem Selbstmitleid hab ich gar nicht bemerkt, dass Anoki aus dem Haus gekommen ist. Plötzlich steht er im Dunkeln neben meinem Auto und erschreckt mich fast zu Tode. Als ich mich wieder gefangen habe, lasse ich die Seitenscheibe runter.
    »Warum kommst du denn nicht rein?«, fragt er. »Ich hab oben am Fenster gestanden und auf dich gewartet. Du sitzt jetzt schon ’ne Viertelstunde hier im Auto. Was ist denn los?«
    Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Die Wahrheit kann ich ihm ja nun wirklich nicht um die Ohren schlagen. Oder? Nein. »Mir war nur ein bisschen schwindelig«, lüge ich routiniert.
    »Komm, ich helf dir mit dem Gepäck«, sagt Anoki mit einem Ausdruck der Besorgnis, der mich gleichzeitig anrührt und beschämt. Er springt wie ein Flummi um das Auto herum, öffnet die Beifahrertür und zerrt mühevoll meinen Koffer raus, der diesmal schwerer ist als sonst, weil ich bis zum 2. Januar bleiben muss (Befehl meiner Eltern). Ich nehme die Tasche mit den Geschenken, und wir gehen gemeinsam rein.
    Mit sadistischem Interesse beobachte ich, wie Anoki sich mit dem Koffer die Treppe hochquält und ihn in mein Zimmer wuchtet. Ehe ich ihm nach oben folgen kann, werde ich von meiner Mutter abgefangen. Es ist die übliche Begrüßung: eine flüchtige Berührung von schmerzhafter Distanz, schnell abgelöst durch banale Bemerkungen wie »Wie war die Fahrt?« oder »Wir können in zehn Minuten essen«. Wie immer habe ich das intensive Gefühl, dass meine Mutter mir am liebsten die Bratpfanne über den Kopf ziehen und brüllen würde: »Gib mir Benni zurück! Gib ihn zurück, du Mörder!« Aber wir sind ja zivilisierte Menschen. Wir verletzen einander mit dem eisigen Hauch unüberwindlicher Schuld, nicht mit Waffen.
    Ich folge Anoki nach oben und muss zugeben, dass er in seiner naiven Unbefangenheit mehr Herzlichkeit ausstrahlt als meine Eltern in den ganzen letzten Jahren. Hat er wirklich am Fenster gestanden und nach mir Ausschau gehalten? Himmel, wann hat zuletzt

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