Herzbesetzer (German Edition)
haben. Anoki weint haltlos.
So bleibt das die ganze Nacht. Ich habe den Verdacht, dass weitaus mehr aus ihm herausströmt als nur die Tränen über seine mutmaßlich wiederentdeckte und sofort wieder verlorene Mutter. Höchstwahrscheinlich handelt es sich um eine groß angelegte Reinigungsaktion seines gesamten zugemüllten Seelenhaushalts. Aber was soll’s – wichtig ist, dass er alles rauslässt und dass ich bei ihm bin und ihn festhalte. Ich spüre nicht mal meine Müdigkeit, so sehr nimmt mich das Bewusstsein meiner Mission in Anspruch. Es ist nicht so, dass ich meine Rolle genieße, dafür fühle ich Anokis Schmerz zu sehr mit: was ihm wehtut, tut auch mir weh. Ich bin nur froh, dass er nicht alleine ist und dass ich meinen bescheidenen Beitrag dazu leisten kann, ihn wieder aufs Gleis zurückzubringen. Das klingt echt edel, was? Hey – das ist es auch. Ich bin ja nicht nur schwanzgesteuert. Ich liebe ihn wirklich.
Es dämmert draußen, und erwachende Vögel tauschen erste, noch schnabelfaule Botschaften aus, als Anoki erschöpft in meinen Armen einschläft. Auf dem Boden türmt sich ein Berg benutzter Taschentücher, mein Hemd ist durchnässt, und von seiner Kriegsbemalung sind nicht mal die üblichen vertikalen Spuren auf den Wangen übrig geblieben. Alles weggeschwemmt von seinem Tränenfluss. Ich bleibe ganz still sitzen, Anokis Kopf in meinem Schoß, meinen rechten Arm um seinen Oberkörper geschlungen, und versuche, in dieser Position ein bisschen Schlaf zu kriegen.
»Das war meine Mutter. Tausend Prozent. Ich hab die am Gang erkannt, an den Haaren, an allem. Sogar das Kleid … das hat die damals schon gehabt«, beteuert Anoki mehrere Stunden später, als er wieder in der Lage ist, ohne Tränen über sein Erlebnis zu sprechen. Ohne Tränen heißt übrigens nicht: ohne innere Bewegtheit. Er ist immer noch ziemlich wacklig. »Und dann ist die in den Bus gestiegen. Scheiße!! Ich hätt die doch fast eingeholt!« Verzweifelt haut er mit der Faust auf die Couch.
»Und was hättest du dann gemacht?«, frage ich nach einer kleinen Pause.
Er guckt mich groß an. »Öhm … wieso? Die hätt mich doch wohl wiedererkannt, oder?«, sagt er unsicher.
»Äh, ja klar«, bekräftige ich. »Ich hab mich nicht groß verändert«, behauptet Anoki. Nicht verändert zwischen zehn und vierzehn? Wer’s glaubt.
»Das heißt, die lebt noch. Und sogar in Berlin«, grübelt er weiter.
Ja. Das ist genau der Punkt. Ich kann nur hoffen, dass er … Zu spät. »Warum sucht die dann eigentlich nicht nach mir?«, fragt Anoki mit einem Augenaufschlag, der mir durch Mark und Bein geht. Dieser Blick wird mich garantiert bis ins Grab verfolgen: diese jähe Erkenntnis einer existenziell niederschmetternden Wahrheit. Ich taste verzweifelt nach Worten, aber da sagt er es schon selbst, und zwar mit einer Stimme ohne jeden Klang, wie aus einem Pappkarton heraus.
»Die sind also nicht tot. Und auch nicht entführt. Die haben …« Er schluckt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass er diesen Satz vollendet – aber er tut es. »Die haben mich doch ausgesetzt.« Mittlerweile zittere ich. »Das war geplant. Die haben nur gewartet, bis ich um die Ecke war, und dann sind die abgehauen.« Anoki zittert genauso. Er klappert sogar leicht mit den Zähnen. Ich weiß einfach nicht, wie ich ihn noch fester halten kann, ohne ihm was zu brechen.
Nach einer endlosen Zeitspanne, in der er mit einem eindeutig ermordeten Blick ins Leere starrt, flüstere ich: »Nee, glaub ich nicht. Die haben vielleicht einfach nur … vergessen … zu warten.«
Er wendet den Kopf in meine Richtung, aber sein toter Blick geht durch mich hindurch.
86
Anoki hat sich seit Stunden nicht mehr bewegt, er spricht nicht mehr und weint nicht mal. Mehrmals habe ich ihm etwas zu essen oder zu trinken angeboten, aber er reagiert nicht. Es ist, als sei er versteinert. Manchmal schaukelt er leicht vor und zurück, aber die meiste Zeit sitzt er vollkommen starr da. Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen? Noch dazu ein so halbfertiger, dessen Selbstwertgefühl sich erst entwickeln muss? Die eigenen Eltern lassen ihn irgendwo stehen, er geht vier Jahre lang durch eine Hölle, von der er mir nie so richtig erzählen will, er kriegt neue Eltern, nach kürzester Zeit verschwindet auch seine nächste Mutter mit unbekanntem Ziel und auf eine Weise, die ihn sich schuldig fühlen lässt, sein Vater mutiert zum hilflosen Zombie, er sieht seine leibliche Mutter wieder, und sein
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