Herzbesetzer (German Edition)
ganzes mühsam zusammengeschustertes Weltbild kracht zusammen. Was soll das? Muss das sein? Hätte die Hälfte, ach, ein Viertel davon es nicht auch getan? Wieso gleich eine solche Anhäufung von Grausamkeit, die für mehrere Leben ausreichen würde? Hat er irgendwas getan, um das zu verdienen? Niemand kann so was verdienen. Mit keinem Verbrechen der Welt. Und Anoki hat garantiert nichts Böses getan! Ich habe seit heute Morgen fünf Tabletten genommen und fühle mich von innen immer noch wie rohes Hackfleisch.
Plötzlich springt Anoki auf und sagt: »Können wir zu der Haltestelle fahren? Ich will wissen, wo der Bus langfährt. Können wir die Strecke abfahren?«
Ach, armes Kind, was soll das bringen? Aber ich könnte ihm jetzt keinen Wunsch abschlagen. Ich bin sogar froh, dass er wieder lebt. »Ja, natürlich«, sage ich, »komm. Ich hab irgendwo noch einen Netzplan von der BVG, den können wir mitnehmen, da sind die Strecken eingezeichet. Dann ist es leichter.«
Es ist mir unheimlich, dass er so normal wirkt, ich habe Angst, dass er gleich umso schlimmer wieder zusammenbricht. Also versuche ich, ihn durch alles, was ich tue und sage, zu stabilisieren. Wir fahren die komplette Strecke der Buslinie ab, in die Anoki seine Mutter hat einsteigen sehen, und die ist ziemlich lang. Natürlich bringt uns das keinerlei neuen Erkenntnisse. Das Einzige, was Anoki auffällt, ist, dass der Bus durch ein Gebiet mit vielen leer stehenden Häusern fährt.
»Da könnten die irgendwo wohnen«, meint er. »Glaubst du, dass deine Eltern immer noch, äh, Häuser besetzen?«, frage ich skeptisch.
»Ja klar«, sagt Anoki. »Oder meinst du, die haben jetzt ’n Reihenhaus in Hellersdorf?«
Als wir die Strecke bis zur Endstation ausgekundschaftet haben, will Anoki noch mal in dieses Sanierungsgebiet fahren, und wir parken den Wagen dort, um uns zu Fuß umzusehen. Wohlgemerkt, ich halte nichts von dieser Aktion. Ich mache bloß mit, weil ich ihm nicht widersprechen will – und weil es mir lieber ist, wenn er irgendwas macht, anstatt nur leblos auf meiner Couch zu sitzen. Schließlich kehren wir ohne Ergebnis nach Hause zurück. Anoki fährt seine Vitalzeichen wieder fast auf null runter und hüllt sich erneut in Trauer und Schmerz. Am meisten quält mich meine eigene Hilflosigkeit. Wenn ich seine oder meine Mutter – die beiden Hauptschuldigen in dieser Angelegenheit – jemals in die Finger kriege, das schwöre ich, dann haben die nicht mehr viel zu lachen. Am liebsten würde ich sie jetzt alle beide gefesselt hierherschleppen und sie dann notfalls mit Waffengewalt zwingen, ihm zu sagen, dass sie ihn lieben, dass er einzigartig, wichtig und unersetzlich ist, dass sie die Verantwortung für ihn übernehmen und ihm alles geben werden, was er so schrecklich dringend braucht. Stattdessen läuft es wohl darauf hinaus, dass diese Aufgabe allein mir zufällt – einem ziemlich zufällig in sein Leben gerutschten bindungsscheuen Zyniker ohne jede Wertvorstellungen. Also, das war ich jedenfalls. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hab ich mich ziemlich verändert, seit Anoki mir am Hemdzipfel klebt. Hätte ich so was wie eine ethische Grundüberzeugung, würde ich wahrscheinlich annehmen, dass diese ganze wirre Konstruktion einem höheren Plan folgt.
Anoki wacht aus seiner Starre auf. Er kommt zu mir ans Fenster, aus dem ich seit Minuten hinausblicke. Ich drehe mich um, und er baut sich vor mir auf und blickt mir mit wilder Festigkeit in die Augen.
»Ich will bei dir wohnen«, sagt er trotzig. Beinahe erwarte ich, dass er wie ein Dreijähriger mit dem Fuß aufstampft. »Ich will bei dir wohnen«, wiederholt er, jede Silbe betonend. »Was anderes kommt nicht in Frage. Ich mach das Schuljahr noch zu Ende, aber dann zieh ich zu dir.«
Ich bin beeindruckt von seiner bezwingenden Willensstärke. Trotzdem wage ich zu fragen: »Warum?«
Anoki verschränkt die Arme vor der Brust. »Weil du der Einzige bist, dem ich nicht egal bin«, erklärt er frei von Selbstmitleid – einfach als Feststellung einer Tatsache. Ich sehe ein, dass es wenig Sinn hat, ihm jetzt mit Floskeln wie »Ach Unsinn, doch nicht der Einzige« zu kommen, denn er hat recht. »Irgendjemand muss sich um mich kümmern«, sagt Anoki altklug. »Sonst werd ich garantiert keine achtzehn.«
Das ist eine äußerst wirkungsvolle Drohung, denn schließlich lebe ich fast ausschließlich in der Erwartung dieses Tages. »Na gut«, sage ich schnell. »Du kannst dir im Keller ein Feldbett
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